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Mama wohnt jetzt seit fast zwölf Monaten bei uns in Hamburg. Wenn ich so zurück blicke, muss ich sagen, das war eine schöne Zeit bisher. Wir hatten schon so viele, schöne Momente, und sie sieht ihre Enkelin nun aufwachsen. Es gibt immer noch Tage, an denen ich das gar nicht glauben kann. Wie viel sich verändert hat, und wie gut es ihr inzwischen geht. Sie hat eine schöne, eigene Wohnung, in der sie gut zurecht kommt, mit einer großen Sonnenterrasse, auf der sie im Sommer sehr gern sitzt. Sehr komfortabel. Genau so wie das wirklich leckere Mittagessen auf Rädern, das sie fast täglich bezieht und sehr genießt, nachdem sie ja monatelang von mir bekocht wurde und dies zwar akzeptabel, aber bei Weitem nicht zufriedenstellend fand (ich werde das auch noch mal irgendwann verbloggen müssen).

Sie hat aus dem Stand Pflegegrad 3 bekommen.

Von wegen „Ich doch nicht!“, aber auch das ist noch einen schönen, weiteren Blogeintrag wert. Seitdem erhält sie nun täglich Besuch vom Pflegedienst, der morgens kommt, um die Medikamentengabe zu überwachen. Eigentlich kann sie das selbst, aber darum geht es irgendwie gar nicht. Es verschafft mir zwar Gewissheit, dass sie die Herzpillen täglich korrekt nimmt (vor der letzten Augen-OP fielen ihr einzelne Tabletten gern mal unbemerkt runter).

Aber viel wichtiger ist: Der Besuch gibt ihrem Tag Struktur, und die Pflegebediensteten sind zu Bekannten geworden. Durch den Notrufknopf an ihrem Arm kann ich sie nun halbwegs beruhigt alleine lassen, wenn ich an zwei Tagen in der Woche nach Lübeck muss. Und jeden Mittwoch schickt uns der Pflegedienst seit einiger Zeit die Haushaltshilfe Frau D., die mir das Putzen von Mamas Wohnung größtenteils abnimmt und mit ihr spazieren geht. Eine richtig strenge, resolute Dame, die Mama Beine macht, wenn sie keine Lust hat, rauszugehen oder in ihrem eigenen Haushalt zu helfen. Frau D. lässt sich nicht abwimmeln und dringt besser zu ihr durch als ich.

Aber ich bin ja auch nur die Tochter, auf mich muss man ja nicht hören.

Aber wenn eine nahezu Fremde einen Vortrag zum Thema „Wie wichtig Bewegung im Alltag ist“, dann fängt Mama ab dem nächsten Tag an, täglich Morgengymnastik zu machen. Eine bittersüße Erfahrung für mich, aber das Ergebnis zählt, und dann ist ja auch egal, wer sie dazu gebracht hat, Frau D. oder ich. Da darf ich nicht eitel sein. Ich liebe Frau D.  Ich wüsste schon gar nicht mehr, was wir ohne sie machen würden. Neben ihrer Hartnäckigkeit ist sie auch noch mit Humor ausgestattet. Beides braucht sie auch, bei meiner Mutter. Genauso wie der Optiker, bei dem wir heute waren. Der brauchte auch sehr viel Humor. Und Geduld. Ganz viel Geduld. Mamas zweite Augen-OP ist sehr gut verlaufen. Sie sieht jetzt wieder richtig viel, aber mit dem Lesen hapert es leider noch. Sie braucht eine Brille. Das passt ihr nicht, denn sie hat ja noch NIE eine Brille gebraucht, und wie sieht sie denn dann aus, mit so einem Nasenfahrrad, und wenn sie eine bekommt, dann trägt sie die mit Sicherheit nicht draußen.

Tritratrullalla.

Ein Theater. Aber sie kann es drehen und wenden, wie sie will. Lesen klappt nicht. Und das ist natürlich hinderlich, wenn man seine heißgeliebten Opern-Arien nicht mehr nachsingen kann, weil man die Noten und den Text nicht erkennt (ihren direkten Nachbarn stehen lustige Zeiten bevor!). Jedenfalls fanden wir uns heute beim Optiker wieder, um ihrer Gesichtsverunstaltung Vorschub zu leisten. Wir wurden gebeten, uns zunächst ein Gestell auszusuchen. Mama hatte keine Lust dazu, also stand ich auf, ließ meinen Scanner-Blick durch den Laden wandern und fand zielsicher das einzige Modell, bei dem ich mir sicher war, dass es ihr gefallen würde. Volltreffer. Ich kenne meine Mutter eben doch schon etwas länger. So weit, so unkompliziert. Doch dann folgte der schwierigere Part, das Vermessen der Augen mit verschiedenen Gläsern und Gerätschaften.

Optiker: „Und wie ist es jetzt?“

Mama: „Hervorragend, ganz hervorragend!“

Optiker: „Nein, ich meine, ist es jetzt besser oder schlechter?“

Mama: „Das weiß ich doch jetzt nicht mehr.“

Optiker: „Okay, drehen wir noch mal zurück.“ (klick) „Jetzt?“

Mama: „Nein, also DAS geht gar nicht.“

Optiker: „Alles klar, wieder zurück zur besseren Variante.“ (klick) „Stimmt’s?“

Mama: „Hm, nein, keine Änderung.“

Optiker: „Aber gerade sagten Sie doch, das wäre ganz hervorragend?“

Mama: „Geht so. Ich finde, es geht so.“

Ich (denke): „Willkommen in meiner Welt, lieber, armer Optiker.“

Optiker: „Und so?“

Mama: „Ja, das ist SUPER, jetzt sehe ich alles richtig scharf.“

Optiker (klickt): „Und jetzt?“

Mama: „Ja, ganz toll.“

Optiker: „Also besser als gerade?“

Mama: „Besser als was?“

Optiker: „ALS DAS GLAS DAVOR!!!!“

Mama: „Ach so. Nee, ungefähr gleich gut.“

Optiker (klick): „Und jetzt?“

Mama: „Keine Änderung.“

Optiker (klickt): „Und jetzt?“

Mama: „Immer noch. Gleich gut.“

Optiker (klickt): „Jetzt besser?“

Mama: „Immer noch gleich gut.“

Optiker (klickt): „Und nun?“

Mama: „Also, das zwei Gläser vorher, das war RICHTIG gut.“

Optiker: „Aha. Dann drehe ich das jetzt noch mal zurück.“ (klickt)

Mama: „Nein, furchtbar. Ganz schlecht.“

Ich entwickelte langsam Zweifel, ob der Optiker jemals dazu imstande sein würde, die richtige Stärke für Mama zu identifizieren. Sie machte es ihm wirklich nicht leicht.

Optiker: „Jetzt lesen Sie mal die Buchstaben in der ersten Reihe vor.“

Mama (kneift die Augen zusammen): „(………..) Ist das ein A?“

Optiker: „Das frage ich SIE!“

[Es war ein H]

Mama: „Also, A, G, K, F, O.“

[Alles falsch]

Mama: „Oder warten Sie. A, F, L, X, C. Ist doch richtig, oder?“

Optiker: „Nicht ganz, wir nehmen mal eine andere Tafel.“

Mama (vom Ehrgeiz getrieben, man hat ja schließlich noch Augen wie ein Adler!): „Nein, warten Sie, das kriege ich noch hin!“

Optiker: „Werte Dame, ich glaube, Sie haben den Sinn des Tests nicht verstanden. Es geht nicht darum, es zu schaffen. Sie können hier ja auch nicht durchfallen. Ich möchte ja nur herausfinden, was sie tatsächlich noch entziffern können.“

Mama (empört): „Sie sind ja nicht gerade motivierend!“

Optiker: „Es war nicht meine Absicht, Sie zu demotivieren. Dazu gibt es auch gar keinen Grund. Mit dem linken Auge kriegen Sie mit Brille wieder 80 Prozent.“

Mama: „Der Augenarzt hat aber was von 60 Prozent gesagt.“

Optiker: „Vielleicht war das ein Schätzwert?“

Mama: „Aber da muss man sich doch drauf verlassen können, dass man 60 Prozent bekommt, wenn der das sagt.“

Optiker: „Aber 80 Prozent sind doch besser, freuen Sie sich doch!“

Mama: „Auf nichts ist mehr Verlass! Ich frage mich auch, wieso ich nach der OP auf dem linken Auge besser sehe, als auf dem rechten?“

Optiker: „Das müssen Sie Ihren Augenarzt fragen.“

Mama: „Ja, aber auf dessen Angaben kann man ja offenbar nichts geben.“

Optiker: „Noch mal zurück zur Tafel. Die zweite Reihe bitte.“

Mama: „7, 4, 6, 8, 9.“

[Es waren alles Buchstaben]

Optiker (der Verzweiflung nahe): „Sind Sie sicher?“

Mama: „Natürlich bin ich mir sicher.“

Optiker: „Also, dann fangen wir jetzt noch mal von vorne an.“

Ich habe einen guten Arbeitgeber, bei dem man 10 Extra-Urlaubstage pro Jahr dazu kaufen kann. Das habe ich gemacht, und diese Tage nutze ich für die Termine, zu denen ich meine Mutter begleiten muss. Am heutigen Nachmittag hatte ich mir also Urlaub genommen. Manchmal ist arbeiten weniger nervenaufreibend.

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