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Lonari

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Meine Mutter ist echt ne Marke. Anders kann ich das nicht ausdrücken. Monatelang machen wir uns von Februar bis Ende Mai 2024 die größten Sorgen um sie, weil sie – noch zu Hause wohnend – ständig Krampfanfälle bekam, zwischen Krankenhaus und Wohnung hin- und herpendelte und zwischenzeitlich volldemente Phasen hatte, in denen sie mich nicht mehr wiedererkannte und sich weigerte, den Platz in der vollstationären Pflege anzunehmen. Obwohl feststand, dass sie alleine zu Hause nicht mehr klar kommen würde und ausgeschlossen war, sie zu uns zu holen.

Mit Ruhe und Klarheit konnte ich sie dann ja doch vom Gegenteil überzeugen – und was geschah? Sie lebte sich in der neuen Umgebung ein und blühte regelrecht auf. Ich würde sagen, sie ist wieder ganz die Alte – was wir ausschließlich der tollen Rundum-Betreuung zu verdanken haben, die ihr nun widerfährt.

Sie ist sogar so sehr „ganz die Alte“, dass sie nun eine Reise nach Alaska plant.

Kein Witz. Mama will nach Alaska. Es ist ihr völliger Ernst. Wir haben also einen neuen Punkt für die Bucketlist (siehe Kasten hier).

„Warum ausgerechnet Alaska, Mama?“

„Ich bin in meiner letzten Lebensphase angekommen, das muss man realistisch sehen. Und ich möchte, bevor ich das Zeitliche segne, sagen können: Ich bin einmal um die Welt gereist. Stand heute bin ich nichtmal aus Europa rausgekommen.“

Punkt für sie.

Da ich mir Alaska als Reiseziel für uns allerdings nur schwer vorstellen konnte, versuchte ich, dagegen zu halten:

„Aber Japan oder Australien und Neuseeland liegen auch am anderen Ende der Welt – und da ist es wenigstens… etwas wärmer!“

Wildes Kopfschütteln. Keine Chance.

„Ich habe schon als junges Mädchen von Alaska geträumt.“ Da ist es wieder, das Totschlagargument vom Kindheitstraum.

„Ja, aber das hast du die letzten Jahre auch von einer Kreuzfahrt nach Monaco, einer Reise mit der transsibirischen Eisenbahn und einer Big-Five-Safari behauptet!“, rufe ich ihr in Erinnerung.

„Ja, und ich frag mich, wieso haben wir das alles noch nicht gemacht, hm?!“ – Vorwurfsvolle Blicke allüberall.

Ja, entschuldige bitte, dass ich die letzten Jahre unter anderem n bisschen damit beschäftigt war, dein Überleben zu sichern.

Das habe ich natürlich nicht gesagt. Aber eventuell gedacht. Brächte auch gar nichts, das vorzubringen – denn sie erinnert sich nicht an die x Krankenhausrunden in 7 Jahren – 4 davon alleine im letzten Jahr. Sie hat sich bloß immer gewundert, wieso die Pfleger auf der Neurologie sie schon so gut kannten, quasi alles über sie wussten und sie mit High Five begrüßten.

Gesagt habe ich stattdessen…

„Wir haben doch viel gemacht! Zwei Kreuzfahrten, Mama, zwei! Wir sind von Kiel nach Oslo und von Hamburg zum Buckingham Palast geschippert. Und denk an all die schönen Ausflüge, wir waren in Kiel, an der Ostsee, an der Nordsee, in Krautsand…“

Teilweise erinnert sie sich zwar auch daran nur noch schemenhaft, aber die Erinnerungen kommen zurück, wenn sie die Fotos davon betrachtet.

„Du kannst doch Krautsand nicht mit Alaska vergleichen!“

Okay.

Tja.

Und da stehen wir nun. Und ich darf mir mal wieder anhören, ich sähe immer nur die Probleme und nie die Lösungen. Aber was weiß ich schon:

  • „Klar schaff ich trotz Thrombose einen 9-Stunden-Flug Frankfurt/Washington! Dann steh ich halt regelmäßig auf und laufe!“ (am Rollator durch den engen Gang, oder wie?!?)
  • „Ansonsten bin ich topfit! Epilepsie – so n Quatsch! Ach, die paar Herzproblemchen. Das schaff ich locker! Ich hab hier meinen eigenen Physio, mit dem ich trainiere!“ (Lange Fußwege sind nicht so ihre Spezialität zurzeit, gelinde gesagt…)
  • „Na und, dann sterb ich halt auf der Reise meines Lebens! Gibt es was Schöneres?!“
  • „Natürlich kommen L, T und Happy mit! Die paar Stunden Frachtraum wird der Hund doch wohl überstehen! Und das Schiff legt einmal am Tag an, das wird als Gassi doch wohl reichen!“
  • „Nein, ich will in den USA und in Kanada nicht von Bord. Ich will nur Alaska sehen, und das auch nur vom Schiff aus!“ (wie damals bei „Ich will bloß den Buckingham Palast sehen, alles andere spare ich mir!“)
  • „Ach Quatsch, so teuer ist das gar nicht!“ (14 Tage Alaska, minimum 3.000 Euro pro Person, reichlich Kohle, um alles nur von Bord aus zu betrachten).

Bei uns wundert sich auch schon keiner mehr darüber.

Wenn ich zu Hause T und L von Omas Plänen erzähle, nicken die nur und sagen: Ja, wieso nicht. Machen wir das halt.

Ich bin hier mal wieder die einzige Bedenkenträgerin, die sich über den Wandel ihres Zustandes wundert, überall Hürden sieht und sich das Ganze nur schwer vorstellen kann. Aber wenn alle das so „easy-peasy“ finden, muss ich wohl meine Blockadehaltung auch nochmal überdenken.

Aber eins steht fest: Der Hund fliegt nicht 9 Stunden im Frachtraum. Wenigstens dabei setze ich mich durch!

Und Krautsand kann sehrwohl mithalten. Sieht man ja auf dem Titelbild.

Mama ist seit Juni 2024 in der vollstationären Pflege. Das musste sein und war ein langer Weg: Von „Ich lebe noch ganz alleine zu Hause“ über „Ich schlafe zu lange, nehme meine Tabletten nicht mehr regelmäßig genug und rutsche in einen epileptischen Anfall“ bis „Ich drehe zwei Runden übers Krankenhaus und ziehe dann ins Pflegeheim“ haben wir zusammen zwischen März und Juli eine Menge durchgemacht.

Wir waren tatsächlich in einem grauenhaften Kreislauf gefangen – bei dem uns ausgerechnet Mamas „kleine Erinnerungslücken, die doch jeder mal hat“ und die wir gefälligst nicht „Demenz“ nennen dürfen, am Ende sogar noch geholfen haben, ihn zu durchbrechen.

Aber von vorne.

März 2024: Mama lebte zwar noch alleine zu Hause, aber ich sah den Tag X schon seit Wochen kommen. Trotz der guten Betreuung durch den ambulanten Pflegedienst, der ihr zwei Mal täglich die Tabletten stellte und ihr bei verschiedenen Dingen half, kam es vor, dass sie den Tag komplett verschlief und dadurch die Einnahme-Intervalle für ihre Medikamente nicht rechtzeitig einhielt.

Bei Epilepsie ist das aber besonders wichtig.

Ergebnis: Sie aß und trank in dieser Zeit zu wenig, rutschte ins Delir ab und kam nicht wieder von alleine heraus. Sie fiel aus dem Bett, was sie sich im Nachhinein selbst nie erklären konnte, und musste in einer dieser Nächte mehrfach den Notrufknopf drücken. Man half ihr immer wieder zurück ins Bett, sie fiel immer wieder raus.

Ins Krankenhaus? Nein, um Gottes Willen, was sollte sie denn da?

Zwei Mal konnte sie innerhalb einer Nacht die Sanitäter bequatschen, sie nicht einzuliefern – bis der Bereitschaftsdienst des Hausnotrufservice mich beim dritten Mal endlich anrief und ich um 3 Uhr nachts aus allen Wolken fallend ein schlaftrunkenes Machtwort sprach.

Wir gingen in Runde 1 und nahmen einen Kurschatten namens Eckhardt mit.

Tatütata, ab ins Krankenhaus, Diagnose Schlüsselbeinbruch und Verdacht auf Schlaganfall, zwei Wochen Aufenthalt, anschließend Geriatrische Reha. Dort blühte sie innerhalb kürzester Zeit dermaßen auf, dass sie sich sogar einen leichten Kurschatten namens Eckhardt anlachte, mit dem sie am Ende Telefonnummern tauschte und von dem sie heute nichts mehr weiß (oder behauptet, nichts mehr davon zu wissen – wer weiß das manchmal schon so genau...).

Schon nach zwei Wochen ReHa erinnerte sie sich gar nicht mehr daran, wie sie eigentlich hier gelandet war. Sie hatte auch keine Schmerzen mehr.

Irgendwas mit Schlüsselbeinbruch, jaja – Nonsens. Wann sollte das passiert sein?!

Da sie also nur die guten Zeiten zu Hause vor Augen hatte, wollte sie logischerweise nach der ReHa dorthin zurück. Wieso auch nicht – sie kam doch noch super alleine zurecht! Meine dezenten Hinweise, dass es anders gewesen sein könnte, wurden geflissentlich ignoriert. Mama bescherte mir durch ihre Sturheit einen Kampf gegen Windmühlen, der mich unendlich viele Nerven gekostet hat.

Aber ich setzte mich zumindest kurzfristig durch und organisierte ihr nach der ReHa einen Platz in der Kurzzeitpflege, um Zeit zu gewinnen.

Wohlgemerkt in derselben Einrichtung, in der sie 2023 schon gewesen war und in der es ihr so gut gefallen hatte, dass sie beim Abschied geweint hatte. Was sie heute natürlich jetzt nicht mehr wusste. Ende vom Lied: Diesmal gefiel es ihr überhaupt nicht. Die Zimmernachbarin war ihr zu jammerig, die Straße draußen zu laut, die Pflegerinnen zu unfreundlich…

Die behaupten immer, sie kennen mich! So ein Quatsch!!!

Abgesehen von den „kleinen Erinnerungslücken“ wirkte sie dort aber nach kurzer Zeit wieder komplett fit. Und bequatschte mich, noch mal nach Hause zu dürfen. Ich redete mit Engelszungen auf sie ein, aber sie wollte unbedingt zurück.

Nun ist es so, dass ich sie nicht zwingen kann, in der Einrichtung zu bleiben.

Das ist halt die Krux: So lange sie noch geschäftsfähig ist – und das ist sie -, kann sie alleine entscheiden, wo sie sein möchte. Ich kann ihr da immer nur beratend zur Seite stehen, so quälend das manchmal auch ist.

Mir mangelte es auch nicht an Deutlichkeit: Ich schwor ihr Stein und Bein, dass sie keine 7 Tage alleine zu Hause zurecht käme, ohne, dass etwas passieren würde, wurde aber als elendige Schwarzmalerin abgekanzelt. Also zuckte ich irgendwann seufzend mit den Schultern und sagte: So sei es.

Auf ging’s in Runde 2.

Mai, 2024: Es stellte sich heraus, dass ich mit meiner Prognose sogar noch zu optimistisch gewesen war. Es dauerte nämlich nach ihrer Rückkehr nach Hause noch nicht mal 5 Tage, bis das ganze Spielchen wieder von vorne losging.

Bis sie also wieder komplett bettlägerig war und nichts mehr ging, von 100 Prozent die Alte direkt hinein in den epileptischen Anfall und rien ne va plus. Und wieder einmal, wie schon so oft in den vergangenen Monaten, war es kompletter Zufall und reines Glück, dass ich sie rechtzeitig fand.

Weil ich jeden Tag mehrfach anrief und nachgucken fuhr, wenn sie nicht reagierte.

Ein herrliches Schreckensszenario für mich. Ich habe heute noch vor Augen, wie ich immer den Schlüssel im Schloss ihrer Haustür umdrehte und innerlich aufatmete, wenn mir ihr fröhliches „Hallooohooo“ entgegen kam.

Was an diesem Tag im Mai dann eben nicht der Fall war. Diesmal lautete die Diagnose: epileptischer Anfall. Wieder blieb sie für einige Tage zur Beobachtung im Krankenhaus. Doch dieses Mal hatte ich die Faxen dicke, ließ mich nicht von ihr bequatschen und bemühte mich um einen Platz in der vollstationären Pflege.

Den wir dann tatsächlich auch bekamen, dem Himmel sei Dank (ein Sechser im Lotto heutzutage!).

Wieder in derselben Einrichtung, in der es ihr während der Kurzzeitpflege zwei Wochen zuvor nicht gefallen hatte, im Jahr zuvor aber außerordentlich gut. Ich schickte Stoßgebete zum Himmel, sie möge sich nur noch ans vorige Jahr erinnern.

Und wurde quasi erhört – wenn auch nicht ganz so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Genau genommen hätte ihr Umzug ein traumatisches Erlebnis für mich werden können, wenn die sensible Pflegerin der Einrichtung nicht so geistesgegenwärtig gehandelt und mich an der Tür abgefangen hätte, als ich Mama noch am ersten Tag dort besuchen wollte.

„Ihre Mutter wird Sie heute nicht wiedererkennen“, sagte sie.

Da war er, dieser Moment, den man als Angehörige einer Demenzpatientin natürlich schon all die Jahre kommen sieht und fürchtet. Ich bin der Pflegerin so dankbar, dass sie mich nicht ins offene Messer rennen ließ, sondern mir die Chance gab, vorher einmal durchzuschnaufen und mich auf die Situation gedanklich einzustellen. Und sie hatte Recht. Mama schaute mich mit leeren Augen an und fragte:

Wer sind Sie denn?

Mama sollte den ganzen Nachmittag lang nicht drauf kommen, wer sie da geduldig durch den sonnigen Park schob. Sie hielt mich für eine Pflegekraft des Hauses.

Der Auslöser für diesen Zustand: Als meine Mutter per Krankentransport aus der Klinik in die neue alte Einrichtung gebracht wurde, hatte sie mal wieder die Demenz-Medikamente nicht rechtzeitig bekommen. Sprich: Das Krankenhaus hat nicht drauf geachtet, und die Pflegeeinrichtung durfte das nun ausbaden.

Was nun folgte, war ein verrücktes Wechselbad der Gefühle.

Denn schon nach wenigen Tagen hier war sie wieder ganz die Alte und ein Meckerheini wie eh und je.

Der natürlich aber wieder nicht verstand, was er hier sollte –

…zwischen den ganzen Dementen?!?

Es war Mama nicht zu vermitteln, dass sie genauso dement wäre wie „die“, wenn sie ihre Tabletten nicht regelmäßig nähme. Wie soll sie das auch verstehen, ich verstehe es ja selbst kaum. Aber es ist real:

Nimmt sie die Tabletten, ist sie wie früher. Nimmt sie sie nicht, ist sie voll dement. Angeknipst, ausgeknipst, und das manchmal innerhalb von Stunden.

Noch verrückter: Mama ist gar nicht klar, was für ein Glück sie hat, dass die Medikamente überhaupt noch dazu in der Lage sind, sie bei Bewusstsein zu halten. Was bei den anderen in ihrer Abteilung eben teilweise schon nicht mehr der Fall ist. Irgendwie kann ich verstehen, dass das ihre Auffassungsgabe übersteigt. Denn ich finde das ehrlich gesagt auch fast unglaublich zu beobachten.

Das Problem daran: Mama müsste darauf vertrauen, wenn ich ihr sage – zu Hause stirbst du. Das tat sie aber nicht.

Ich musste in dieser Phase bei jedem einzelnen Besuch brutal deutlich werden:

Beim nächsten Mal finde ich dich vielleicht nicht mehr rechtzeitig. Und dann bist du weg. Dir kann’s dann ja egal sein, aber vielleicht denkst du dabei auch ein Mal an mich.

Doch nichts davon kam bei ihr an. Ob ich das nun sagte oder mein Freund T oder die Pflegerin oder der Hausarzt oder ein Sack Reis in China. Sie wollte es nicht hören. Ich war der Verzweiflung nahe und kam mir vor wie die Protagonistin eines nicht enden wollenden Albtraums, dazu verdammt, meine Mutter immer rechtzeitig zu finden und ständig Gewehr bei Fuß zu stehen.

Aber ich beschloss, nicht sofort zu reagieren, sie nicht sofort wieder nach Hause zu bringen – sondern das Ganze erstmal auszusitzen. Zumal ich auch gar keine Kraft mehr für weitere Runden übers Krankenhaus gehabt hätte. Zumal wir in den Monaten davor ja auch schon ein paar gedreht hatten.

Es folgten mehrere Wochen Gemecker, und ich kam mir vor, wie damals bei der Kita-Eingewöhnung meiner Tochter.

Wobei diese im Vergleich wesentlich unkomplizierter verlaufen war.

Fast jeden Tag ging ich hin, fast jeden Tag musste ich gute Nerven mitnehmen und wusste nie, was mich erwartete.

Mamas Erinnerungen an den vorangegangenen Aufenthalt in der Einrichtung waren zwar nicht zurückgekehrt, dafür war sie aber in Sachen Kritik leider auch wieder ganz die Alte.

Straße immer noch zu laut, Pflegerinnen immer noch so dreist („Die wollen mich abends ausziehen! Ist das zu fassen?!“). Bettnachbarinnen immer noch suboptimal.

Mecker, mecker, mecker. Für mich war das nur schwer auszuhalten, ihr ungerechtes Gemecker.

Denn dass sie jetzt wieder sehr viel mehr gute als schlechte Zeiten hatte, verdankten wir ausschließlich der guten Betreuung im Pflegeheim.

Das nämlich nicht nur äußerst sensible Mitarbeiterinnen hat, sondern sich auch sonst sehr liebevoll um alle Bewohner und Angehörige kümmert. Wenn ich dort bin – und das bin ich oft – sehe ich immer, wie sehr sich hier um alle und jeden bemüht wird.

Alle sind immer freundlich, der Gesundheitszustand der einzelnen Bewohner wird genau unter die Lupe genommen, Ärzte kommen regelmäßig ins Haus, beim täglichen Veranstaltungsprogramm ist für jeden was dabei (ich finde zB toll, mit welchen Geschicklichkeitsspielen hier gerade Demenz- und Parkinsonpatienten animiert werden), es gibt hier regelmäßig Besuchshunde zum Streicheln, alle Feste werden ordentlich gefeiert, gerade wurde immer EM zusammen geguckt, es gibt Singrunden, der Pastor kommt regelmäßig, im Erdgeschoss gibt’s nen Friseur, es wird für alles gesorgt und es ist immer was los.

Für mich das Wichtigste: Ich kann auch als Angehörige jederzeit mit jedem reden, darf fast zu jeder Tageszeit unangekündigt ins offene Haus reinschneien, und für jedes Problem wird eine Lösung gefunden.

Trotzdem nahm das Gemoser kein Ende, und ich machte ich mir wochenlang Sorgen darum, wie schlecht es ihr in der Einrichtung ging. Obwohl ich doch vom Grunde meines Herzens wusste, wie richtig das alles war und dass sie jetzt endlich gut aufgehoben war.

Der Witz ist: Das hätte ich mir alles sparen können. Die ganzen Sorgen waren vollkommen überflüssig.

Warum? Weil ich die Rechnung ohne ihre Demenz gemacht und gar nicht bedacht hatte, dass Mama nach einer Weile einfach alles schon wieder vergessen haben würde.

So klar sie tagtäglich unter guter Medikation auch zu sein scheint, so viel vergisst sie aber doch von dem, was gerade erst geschehen war. Irgendwann hatte sie folgerichtig also auch schon wieder keine Ahnung, wie sie überhaupt in der vollstationären Pflege gelandet war.

Und das spielte uns diesmal sehr in die Karten. Denn bei meiner Mutter ist das so: Wenn sie erstmal eine Weile irgendwo ist und sich daran gewöhnt hat, hat sie wieder große Angst vor der Veränderung – auch, wenn diese Veränderung bedeutet hätte, in ihre eigene Wohnung zurückkehren zu können. Sprich: Auf einmal hatte sie selbst davor Muffensausen.

Woran ich das bemerkte? Nun, das Gemecker wurde von Besuch zu Besuch weniger.

Nun könnte man denken, sie hätte einfach kapituliert, aber so war es nicht. Die Wahrheit ist: Sie fing an, sich dort wohler zu fühlen.

  • Plötzlich ging sie zu Singrunden und trällerte ihre geliebten Arien.
  • Dann war sie bei Gedächtnisspielen dabei gewesen und konnte mit ihrem Wissen über die Hauptstädte der Welt auftrumpfen.
  • Dann schwärmte sie vom leckeren Mittagessen (auch, wenn ihr Frühstück und Abendbrot manchmal etwas karg erschienen, weshalb ich ihr mal die ein oder andere Stulle extra mitbrachte).
  • Letztlich sah sie nach einem Friseurbesuch unten im Erdgeschoss 10 Jahre jünger aus und erhielt überall Komplimente, die sie in ihrem leeren Zuhause nicht bekommen hätte.

Und last but not least zog eine Bettnachbarin ein, die noch älter war und kein Wort mehr von sich gab.

Ich will hier nicht ins Detail gehen – aber ich glaube, meine meistens recht fidele, laute, singende Mutter fällt in ihrem „angeknipsten“ Zustand in so einem Pflegeheim ziemlich aus dem Rahmen. Wenn man sie in ein Zimmer mit jemandem steckt, der vielleicht etwas von seinem Lebensmut eingebüßt hat, ist Mama möglicherweise gar nicht mal die allerschlechteste Medizin (und sei es, dass sie derjenigen so sehr auf den Wecker fällt, dass die von alleine anfängt, sich bemerkbar zu machen…)

Auf einmal meckerte sie bei meinen Besuchen also nicht mehr, sondern erzählte begeistert, wie sie die Bettnachbarin zum Reden animiert hatte.

Und wie die Pflegerinnen verschwörerisch zwinkernd den Daumen in ihre Richtung hochreckten, nachdem sie das mitbekommen hatten. Plötzlich fühlte Mama sich hier gebraucht.

Und fragte überhaupt nicht mehr danach, wann sie endlich wieder nach Hause könne. Stattdessen sagte sie eines schönen Nachmittags zu mir – und diesen Moment hätte ich am liebsten für die Ewigkeit aufgenommen (um ihn ihr im Zweifelsfall auch später nochmal vorspielen zu können):

„Ja, ich musste erst selbst fühlen, dass ich die Geborgenheit hier brauche“.

Dann sprach sie davon, sie könne nie wieder ohne so einen Notrufknopf direkt am Bett leben und ohne die Gewissheit, dass selbst mitten in der Nacht sofort jemand käme, wenn sie Hilfe benötigte. Und dass sie froh sei, hier zu sein.

Ich dachte erst, ich hätte mich verhört – aber dann war ich unglaublich erleichtert, dass sie es endlich kapiert hatte und mir keine Vorhaltungen mehr machte.

Und wie geht’s nun weiter?

Nachdem sie nun also verinnerlicht hat, dass sie am richtigen Ort ist, ist jetzt klar, dass es definitiv kein Zurück mehr nach Hause gibt. Ende September lösen wir ihre Wohnung auf. Die Möbel werden größtenteils erstmal eingelagert.

Aber meine Mutter ist ja immer für eine Überraschung gut.

Zwar fühlt sie sich nun wohl, und eigentlich ist alles bestens – aber nun äußerte sie immer wieder, sie hätte gern wieder das Gefühl, in unserer Nachbarschaft zu sein. Aktuell müssen wir 35 Minuten mit dem Auto fahren, um zu ihr zu kommen. Das ist nicht schlimm, aber es fühlt sich für sie zu weit weg an.

Und ich mache auch keinen Hehl daraus, dass es auch für uns praktischer wäre, sie in der Nähe zu haben.

Sprich: Sie steht bei einer Einrichtung in unserer Nachbarschaft auf der Warteliste.

Ob und wann sie da was bekommt, steht aber noch in den Sternen. Und ob sie sich dann, wenn es so weit ist, überhaupt noch an ihren Wunsch erinnert, nochmal umziehen zu wollen, auch.

Wichtig wäre natürlich auch, dass sie sich dann in der neuen Einrichtung genauso wohl fühlt wie in der alten. Das könnte eine neue Herausforderung werden, denn zum Einen ist die alte Einrichtung schwer zu toppen, und zum Anderen erzählte sie neulich….

Meine Bettnachbarin und ihr Mann sind für mich auch schon wie Famillie.

Woraufhin ich mir so denke:

Nachtigall, ick hör dir trapsen.

Ich verwette meinen linken Arm darauf: Sie wird nicht wieder rauswollen, wenn es irgendwann so weit wäre.

Aber dann ist das so – und was gibt’s Besseres? Sie ist angekommen.

Und ich kann auch endlich mal wieder durchatmen. Endlich keine Sorgen mehr. Endlich bin ich den ständigen Druck los, immer rechtzeitig da zu sein, wenn’s brennt. Endlich weiß ich sie gut aufgehoben. Endlich ist sie wieder gut drauf, nicht mehr bettlägerig – und wir können noch richtig schöne Sachen unternehmen. Das haben wir die letzten Wochen auch schon fleißig gemacht:

Los ging’s Ende Juni mit einem Ausflug nach Krautsand an die Elbe, den sie sich schon lange gewünscht hat.

Es folgte ein Nachmittag in die Heimat ihrer Kindheit, Kiel, Anfang Juli mit Besuch am Falckensteiner Strand und Kaffeetrinken inklusive Ausblick auf ihr neues Lieblingskreuzfahrtschiff „Mein Schiff 7“ am Norwegenkai.

Gestern waren wir schick essen am Elbufer in Finkenwerder… und es werden hoffentlich noch viele Ausflüge folgen. Mama plant eine weitere Kreuzfahrt für Ostern 2025. Wenn sie so weitermacht, halte ich das nicht für unrealistisch.

Die Reise, der Kampf, die vielen Nerven – es hat sich gelohnt. Ich atme tief durch.

Meine Mutter hatte schon immer ein besonderes Feingefühl für Timing. Und so kam sie anno 2017 mitten beim Essen anlässlich der Beisetzung meines Vaters auf die grandiose Idee, folgendes vom Stapel zu lassen:

Ich muss dir jetzt mal was erzählen. Seit Jahren schon trage ich ein Familiengeheimnis mit mir herum und traue mich nicht, dir davon zu erzählen.

Meine Mutter, setzt zu unpassendsten Gelegenheiten immer noch mühelos eins drauf.

Ich erinnere mich noch gut an die vielsagenden Blicke und die hochgezogenen Augenbrauen um uns herum. Am Tisch saßen nämlich nicht nur meine Mutter und ich – auch meine beste Freundin, mein Partner, die Familie meines verstorbenen Vaters und die besten Freunde meiner Eltern hörten nun mit gespitzten Ohren zu und harrten der Dinge.

Es klang, als wolle meine Mutter mir eröffnen, ich sei gar nicht ihr Kind.

Falsch geraten. Das war’s schonmal nicht. Ich konnte aufatmen. Stattdessen holte meine Mutter nun tief Luft – und man sah ihr an, dass sie sich wirklich ein Herz fassen musste und ein wenig Respekt vor meiner zu erwartenden Reaktion hatte. Bedeutungsschwer und höchst pathetisch formulierte sie die folgenden Worte:

Deine Tante B., also meine Schwester, ist gar nicht deine leibliche Tante. Gott sei Dank, nun ist es endlich raus.

Meine Mutter, sehr erleichtert.

Dann sah sie mich erwartungsvoll und ein wenig ängstlich an und rechnete damit, ich würde in Entsetzen ausbrechen.

Nun muss man wissen: Ich kenne Tante B. kaum.

Tante B. lebt mit ihrem Mann und meinen beiden Cousinen weit weg von uns im Süden Deutschlands. Ich habe sie während meiner Kindheit kaum gesehen. Sie war zwar meine Patentante, aber außer ein paar Taufgeschenken und hier und da mal einen Gruß zum Geburtstag verbinde ich wenig mit ihr.

Im Gegenteil.

Na meinetwegen.

erwiderte ich also, zur allgemeinen Erheiterung aller Anwesender.

Die Tante sei über diese Dinge auch schon seit Jahren im Bilde, sagte meine Mutter, nur bei mir hätte sie sich noch überwinden müssen, mich in Kenntnis zu setzen.

Damit hätte die Geschichte eigentlich abgehakt sein können. End of Story.

Eigentlich hätte ich an dieser Stelle sagen können: Danke für die Info, gut zu wissen, was gibt’s zum Nachtisch? Aber dann erzählte meine Mutter, woher sie das alles eigentlich wusste, und es tat sich ein Geflecht aus Geheimnissen und Merkwürdigkeiten auf, das mich hellhörig werden ließ.

Ich habe es meiner Berufskrankheit namens Neugierde (ich bin Redakteurin und recherchiere gern) zu verdanken, dass ich das Ganze dann doch nicht ganz auf sich beruhen lassen konnte – und ich bin heute noch immer mittendrin, alles zu entwirren.

Nur so viel zum Stand meiner Recherche: Im schlesischen Heimatort meiner Großeltern sind zufälligerweise im Geburtsjahr meiner Tante auffällig viele Babys verstorben – wesentlich mehr als in den Jahren zuvor und danach. Und ich möchte herausfinden, ob das tatsächlich nur an den schlechten Zeiten lag.

Oder ob hier systematisch Sterbeurkunden gefälscht wurden, um Kinder zu retten, vor den Deportationen 1942 beispielsweise.

Bisher habe ich nur Indizien. Zum Beispiel gibt es da eine Ortshebamme, deren Name meiner Mutter bekannt war und die in vielen dieser Urkunden auftaucht, und ein Kreiskrankenhaus, dessen Vorsteherin wohl auch einen gewissen Einfluss auf den Verlauf der Dinge gehabt haben dürfte.

Die ganze Geschichte hat für mich eine sehr persönliche Komponente. Unter anderem birgt sie das Potenzial, meinen Blick auf meine sehr geliebte Oma im Positiven wie natürlich auch im Negativen zu verändern – je nachdem, welche Rolle sie dabei gespielt hat.

Jedenfalls werde ich versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen.

Und plane für den Anfang eine vor-Ort-Recherche beim Landesarchiv Berlin. Nach dem Krieg wurden die erhalten gebliebenen Personenstandsregister der ehemaligen deutschen Ostgebiete hierhin gebracht, und das Register aus dem Heimatort meiner Großeltern ist dabei. Wenn ich noch irgendwo Dokumente finde, welche die Herkunft meiner Mutter belegen, dann hier.

Denn meine erste Mission lautet: Die Geburtsurkunde meiner Mutter finden.

Als meine Oma damals im Krieg vor den Russen flüchten musste, stand ihr vermutlich nicht der Sinn danach, sich erst noch Abschriften der Geburtsurkunden ihrer beiden Mädchen zu besorgen, bevor sie sich mit ihrem spärlichen Hab und Gut auf den Weg in den Westen machte.

Deshalb konnte meine Mutter sich nie richtig legitimieren. In Kiel angekommen, wurde einfach per eidesstattlicher Versicherung besiegelt, wohin die beiden Mädchen gehörten – und fertig. Was sollte man auch sonst tun.

Als ich damals nach dem Tod meines Vaters Witwenrente für meine Mutter beantragte, wurde ihr aufgrund des fehlenden Dokuments immer noch der Status eines geduldeten Flüchtlings bescheinigt – nachdem sie bereits über 50 Jahre im Westen gelebt hatte. Das empfand ich als ungerecht. Es war mir damals schon ein Dorn im Auge, muss ich sagen.

Meine Mutter und ich sind uns einig: Es ist immer gut, sich legitimieren zu können und schwarz auf weiß zu haben, woher man kommt.

Da man die Geburtsurkunden noch lebender Personen u.a. aus datenschutzrechtlichen Gründen aber nicht online einsehen kann, werde ich mich also demnächst mit einer Vollmacht unter dem Arm auf den Weg nach Berlin machen. Bald geht es los – ich werde berichten.

Wow, ich kann gar nicht fassen, dass schon 5 Jahre vergangen sind seit meinem letzten Eintrag. Ich habe fünf Jahre nicht mehr von Mama und ihren Erlebnissen berichtet. In der Zwischenzeit ist Corona an uns vorbei gedonnert (sie hat es bisher gut überstanden), meine Tochter L ist ein Teenager geworden, wir mussten einen schweren Schicksalsschlag erleben und sind selbst noch mal umgezogen.

Und dabei ist es gar nicht so, dass es nichts zu berichten gegeben hätte – im Gegenteil. Sogar fast nur gute Dinge. Wir konnten nämlich ziemlich viele Punkte von der Bucket-List abarbeiten, und davon will ich heute einmal berichten.

Die Bucket-List: Von Oslo nach London nach Helgoland nach Cuxhaven nach Kiel

Mama hat und hatte ja noch viel vor. Immer, wenn ihre Gesundheit es zuließ, haben wir sie mit ihrem Rollator eingepackt und sind losgedüst. Meine Mutter hat ein Faible für den europäischen Hochadel und dessen Behausungen, die sie aber immer nur von außen sehen möchte. Und zu allererst wollte sie mit der Colorline von Kiel nach Oslo.

Station eins: Einmal Norwegen und zurück

Bei bestem Wetter liefen wir aus, von Kiel nach Oslo auf der ColorMagic. Video: Mission MamaPapa

Und Norwegens Fjorde empfingen uns ebenfalls mit Kaiserwetter, die Einfahrt in den Hafen von Oslo war einfach nur traumhaft:

Die Fahrt durch den Oslofjord.
Die Fahrt durch den Oslofjord. Foto: Mission MamaPapa

Das Schloss war dann gar nicht mal so spektaktulär – aber meine Mutter hatte Gefallen an der ganzen Reiserei gefunden.

Unsere größte Tour ging mit der AIDAprima von Hamburg nach Southampton.

Ich möchte einmal im Leben den Buckingham Palast sehen. London interessiert mich nicht, ich will bloß dorthin, aus dem Taxi aussteigen, einmal gucken, und wieder zurück.

Meine Mutter. Hatte schon immer ihre ganz eigenen Vorstellungen, die man nicht immer verstehen muss.

Mamas Wunsch war uns Befehl. Wir suchten also nach einer möglichst komfortablen Lösung. Da sie von jeher ein großer Fan von Kreuzfahrten war, aber nie eine „richtige“ gemacht hatte, lag es irgendwie auf der Hand: Wir stiegen im Sommer 2022 also in Hamburg-Steinwerder aufs Schiff, ließen uns über Nacht nach England schippern und setzten uns dort in einen Bus, der uns nach London bis fast vors Schloss fuhr. Mama stieg aus, staunte, blieb ca. 30 Minuten staunend an derselben Stelle stehen, und dann stiegen wir wieder ein. Sie hatte genug gesehen.

Oma am Rollator vor dem Buckingham Palace.
Sommer 2022: Oma am Rollator vor dem Buckingham Palace.

Ich brauche keine Besichtigung. Ich will das Schloss bloß von außen sehen.

Oma auf die Frage, ob wir nicht auch in den Palast hineinwollen, wenn wir schon da sind. Aber nein!

Nächste Station: Cuxhaven. Hauptsache Meer.

Wenn man sich Mamas Bucket-List näher ansieht, fällt auf, dass die meisten Orte, die sie bereisen will, irgendwas mit Meer zu tun haben. Das liegt daran, dass sie einen Teil ihrer Kindheit nach dem Krieg in Kiel verbracht hat, wo ihr Vater stationiert war. Meine Mutter konnte an meiner Heimat Düsseldorf, dem Rheinland und allem, was südlich von Hamburg liegt, nie viel Gefallen finden. Gelebt hat sie dort nur, weil mein Vater dort war und dort partout nicht weg wollte.

7 Jahre Hamburg liegen nun hinter ihr – 7 Jahre fast an der Küste, auf jeden Fall im Norden, das gefällt ihr. Hier lebt es sich ganz anders –

…allein DIE LUFT! Diese wunderbare Luft hier.

Mama liebt das Meer, die Schiffe und den Hafen.

Auf ihrer Liste standen Nordsee-Besuche, und einer davon führte uns nach Cuxhaven direkt an den Strand von Duhnen:

Meine Mutter mit Rollator am Strand von Cuxhaven-Duhnen
Mama und ihr Fischerhütchen, diesmal wieder in der weißen Variante, am Strand von Cuxhaven-Duhnen.

Wir haben ihr einen Camping-Stuhl gekauft, den man ganz klein zusammenfalten kann, damit sie immer eine passende Sitzgelegenheit dabei hat. Da sitzt sie dann und schaut aufs Meer und ist glücklich. Die Nordsee hat es ihr besonders angetan.

Noch mehr Meer: Helgoland

Als ich ein Kind war, waren wir auf Langeoog (2x sogar), auf Wangerooge, auf Juist, auf Pellworm, auf diversen Halligen, in Kiel, auf Fehmarn und sonstwo an der deutschen Küste. Nur auf Helgoland, da sind wir nie gewesen. Das wurmte meine Mutter schon sehr lange.

Gesagt, getan. August 2021 – hallo, Halunder Jet. In Hamburg zu wohnen ist ja schon ganz praktisch, wenn man schnell ans Meer will. Der Helgoland-Express fährt hier ab und nahm uns mit. Und tadaaa:

Mama in Helgoland. Heute wieder mit blauem Fischerhütchen.
Mama in Helgoland. Heute wieder mit blauem Fischerhütchen. Foto: Mission MamaPapa

Fand sie gut dort. Direkt nach der Ankunft startete das Rollator-Rennen der mitgereisten SeniorInnen, und meine Mutter lag geschwindigkeitsmäßig im Mittelfeld. Leider haben wir es trotzdem nicht bis zum Oberland geschafft, bevor der Jet die Rückfahrt antrat.

Das wurmt sie jetzt noch mehr, deshalb müssen wir dieses Jahr nochmal hin.

Nächstes Mal nehmen wir am Anleger direkt ein Taxi bis zum Aufzug zum Oberland.

Mama, hat Learnings eingefahren und skizziert den Plan fürs nächste Mal.

Und in Kiel waren wir natürlich auch mal wieder.

Immer, wenn Mama das Laboer Ehrenmal sieht, kommen ihr die Tränen. Inzwischen ist leider auch ihre Demenz ein wenig vorangeschritten, sodass sie immer, wenn wir mal wieder nach Kiel fahren, denkt, sie wäre zum ersten Mal seit Langem wieder da. Dabei waren wir regelmäßig dort in den letzten Jahren:

Ein Glas Aperol Spritz im Sonnenlicht.
Wegen ihrer Medikamente darf Mama so gut wie keinen Alkohol trinken. Aber ein Gläschen Aperol im Sonnenschein durfte es in Kiel neulich mal sein.

Und 2024?

Tatsächlich haben wir noch nicht viele Pläne für dieses Jahr. Mamas Gesundheitszustand ist seit einigen Wochen etwas… volatil. Erkältungen, Magendarm-Probleme, die Demenz und das Alter machen ihr zu schaffen. Zurzeit kommt sie immer noch gut in ihrer Wohnung klar, mit Hilfe des Pflegedienstes, der Tochter und des Schwiegersohns.

Aber sie braucht immer sehr lange, um sich gesundheitlich wieder zu erholen, wenn sie angeschlagen war. Deshalb sind die Gelegenheiten, zu denen wir etwas unternehmen können, seltener geworden. Ich versuche, die Momente deshalb immer besonders zu genießen.

Und hoffe, es kommen noch einige Momente, in denen wir zusammen lachen und staunen können, wie in den letzten 7 Jahren, die wir hier gemeinsam verbringen.

Oder: Der ewige Kampf mit den Medikamenten, ein Drama in drei Akten.

Prolog: Die heilige Krankenkassenkarte.

Vor einigen Monaten.

Ich: „Mama, der Pflegedienst kann für uns komplett die Medikamentenversorgung übernehmen. Das heißt: Wenn die Medikamente zur Neige gehen, dann rufen die beim Arzt an, bestellen ein neues Rezept, holen das Rezept ab, gehen in die Apotheke, besorgen die Medikamente und bringen sie zu Dir. Klingt doch super, oder?“

Mama: „Oh ja, das wäre ja toll, das würde Dich ja sehr entlasten, zumal meine sieben Medikamente ja nie gleichzeitig zu Ende gehen und Du ständig ein Auge darauf haben und immer wieder loslaufen musst.“

Ich: „Ganz genau. Und alles, was Du dafür machen musst, ist einmal pro Quartal Deine Krankenkassenkarte an den Pflegedienst aushändigen, damit sie die beim Arzt durchziehen lassen können.“

Mama: „Kommt nicht infrage! Ich gebe doch meine Krankenkassenkarte nicht irgendwelchen Fremden in die Hand! Wenn die verloren geht! Nicht auszudenken!“

Ich: „Aber Mama, was soll denn dann passieren?“

Mama: „Kann man nie wissen! Dann findet die jemand und geht auf meine Kosten zum Arzt!“

Ich: „Aber Mama, da ist doch Dein Bild drauf. Das würde man in der Arztpraxis doch merken.“

Mama: „Seine Bankkarte gibt man doch auch nicht einfach so aus der Hand!“

Ich: „Ja, aber damit kann ja auch viel mehr Schindluder getrieben werden. Wenn die Krankenkassenkarte weg ist, dann ruft man einfach die Krankenkasse an, lässt sie sperren und bekommt eine neue. Ich glaube, das kostet noch nicht mal was! Außerdem verliert der Pflegedienst die schon nicht. Das machen die täglich!“

Mama: „Nein. Trotzdem. Kommt nicht infrage.“

Erster Akt: Ein Rezept in der Vorweihnachtszeit.

Was Mama nicht will, will Mama nicht. Also übernehme ich weiterhin die Bevorratung ihrer Medikamente. Das bedeutet, ich checke alle 14 Tage den Bestand und bestelle nach, wenn es etwas nachzubestellen gibt. Es sind sieben Medikamente. Sieben Medikamente, die immer in unterschiedlicher Anzahl verpackt sind und nie gleichzeitig zu Ende gehen. Man kann sie nicht auf einmal bestellen, dann streikt der Hausarzt irgendwann, weil man zu Hause eine eigene Apotheke eröffnen könnte.

Vor Weihnachten ist es besonders wichtig, in dieser Hinsicht aufmerksam zu sein. Denn zwischen den Jahren und Anfang Januar hat die Hausarztpraxis geschlossen und wird von einer anderen Praxis am anderen Ende der Stadt vertreten. Um Umwege in den Ferien zu vermeiden, ließ ich mir am 10.12.2018 also ein Rezept für zwei Herzmedikamente ausstellen, die meinen Berechnungen zufolge am 09.01.2019 zu Ende gehen würden.

Wie es die Vorweihnachtszeit so an sich hat, habe ich es tatsächlich bis zum 08.01.2019 nicht geschafft, das Rezept einzulösen. Aber ich war ja auch noch in der Zeit. Noch.

Zweiter Akt: Der Einlauf vom Pflegedienst.

Am 08.01.2019 liege ich krank im Bett, weiß aber natürlich, dass Mamas Medikamente heute zu Ende gehen. Aber ich bin eben krank. Kommt vor. Pflegende Angehörige werden auch krank!

Das Telefon klingelt, der Anrufbeantworter springt an. Ich höre meine Mutter, wie sie sich darauf lautstark empört: „Unmögliche Behandlung!“, „Im Ton vergriffen“ und „Muss ich mir denn alles gefallen lassen hier?“.

Der Pflegedienst ist wie jeden Tag bei ihr gewesen, um die Medikamenteneinnahme zu begleiten und hat festgestellt: Zwei der Medikamente sind heute zu Ende! Und dann haben sie Mama im unangemessenen Tonfall dafür angemotzt, obwohl sie die Letzte ist, die was dafür kann. Mama hat sich aufgeregt. Ich höre mir ihre Schilderungen an, greife fiebrig und mit Krächzen im Hals zum Telefon, rufe die Pflegedienst-Zentrale in unserem Stadtteil an und mache der diensthabenden Schichtleitung klar, dass sie mit einer herzkranken Achtzigjährigen anders umzugehen haben. Dabei bin ich trotzdem noch halbwegs freundlich, weil ich weiß, dass die alle unterbezahlt unter Dauerdruck stehen, und weil ich weiß, dass der Pflegedienst eigentlich Recht hat: Die Medikamente dürfen nicht zu Ende gehen. Schließlich würden sie die Bevorratung ja auch liebend gern übernehmen. Aber das verhindert meine Mutter ja mit ihrer Krankenkassenkarten-Verlustangst. Es ist kompliziert!

Die Schichtleitung reagiert beschämt darauf, dass die Pflegerin sich im Ton vergriffen hat und verspricht, sich um diese Angelegenheit zu kümmern.

Dritter Akt: Das abgelaufene Rezept.

Ich raffe mich auf und schleppe mich zur Apotheke. Vorsichtshalber rufe ich vorher bei der Apotheke an, um nachzufragen, ob ich ein Rezept vom 10.12.2018 einen Monat später noch einlösen könne. Die freundliche Apothekerin flötet:

Aber natürlich können Sie das! Ein Rezept ist genau vier Wochen lang gültig!

Ich stecke das Rezept ein und gehe in die Apotheke. Die Apothekerin zieht das Rezept durch ihr Lesegerät und sagt:

Das Rezept ist nicht mehr gültig.

Ich denke noch so bei mir: „Ach Mensch, jetzt schlägt meine Erkältung sich schon auf mein Hörvermögen nieder. Ich könnte schwören, die Apothekerin hätte gerade gesagt, das Rezept sei nicht mehr gültig, obwohl sie 15 Minuten zuvor am Telefon noch das Gegenteil versichert hat.“

Aber doch. Das Rezept sei genau eine Stunde zuvor abgelaufen, angeblich. Ich würde gern im Dreieck springen. Aber erstmal können vor husten.

Epilog: Warum nicht gleich so.

Mama lässt den Pflegedienst nun die Medikamentenversorgung übernehmen und trennt sich ab jetzt freiwillig einmal pro Quartal von ihrer Krankenkassenkarte. Ich hatte die Faxen dicke. Und die Pflegerin hat sich in aller Form bei Mama für den unangemessenen Tonfall entschuldigt. Geht doch. Es geht alles, man muss nur wollen. Und wir sind alle nur Menschen. Selbst pflegende Angehörige sind nur Menschen.

Heute ist Mamas Umzug genau ein Jahr her. Wie wir den Möbelwagen gepackt haben, mit den nötigsten Sachen. Wie wir gemeinsam zum PKW gegangen sind und wussten: Sie kehrt jetzt nicht mehr zurück. Ich sehe uns beide noch die Straße entlang fahren und höre sie sagen: „So, das war’s dann jetzt mit mir und Düsseldorf. Das war’s! 40 Jahre sind vorbei.“ Es war auch für mich ein komischer Moment. Ich würde noch etliche Male wiederkehren, um das Haus zu verkaufen, aber ich löste an diesem Tag ja auch mein altes Zuhause auf, indem ich Mama mitnahm. Keine Eltern mehr in Düsseldorf. Das war traurig und erleichternd zugleich.

Und wo stehen wir nun?

Ich bin so stolz auf sie. So stolz auf uns. Die ersten Monate waren wirklich hart für sie, aber jetzt hat sie sich eingelebt. Seit einigen Wochen machen wir immer Sonntagsausflüge. Nach der Elbphilharmonie war die Lüneburger Heide dran, wir haben zu viert eine herrliche Kutschfahrt gemacht. Und heute ging es an den Elbstrand in Bassenfleth. Mama hat sich tapfer über den Deich gekämpft und 200 Meter bis zum Strand ohne Rollator bewältigt, an meinem Arm. Das ist sehr viel für sie. Aber sie hat es geschafft. Vor Ort haben wir den eigens gekauften Campingstuhl aufgestellt, und sie sagte: „Es ist so rührend, wie ihr das alles für mich macht.“

Sie spart sonst mit Lob.

Auch, wenn ich immer spüre, dass sie für alles, was wir tun, dankbar ist: Sagen tut sie es so deutlich eher selten, und das ist auch okay. Umso überraschter war ich heute, dass sie unsere Bemühungen so deutlich wahrnahm und artikulierte, was in ihr vorging. Vollkommen zufrieden und glücklich saß sie zwei Stunden lang in ihrem Campingstuhl, sprach über ihr Leben und beobachtete die Container-Pötte und Segler, die elbauf- und elbabwärts an uns vorbei zogen. Ich liebe diesen Strand, und es war ein toller Nachmittag. Es ist so schön, zu sehen, wie gut ihr sowas tut und wie sie aufblüht. Und dass sie zwischendurch versehentlich mit dem Campingstuhl umgekippt und auf dem etwas hügeligen Weg rückwärts in die Büsche gefallen ist, konnte sie nicht erschüttern. Sie saß verdattert im Busch und lachte in sich hinein, und weh getan hat sie sich zum Glück nicht, ist recht weich gelandet.

Wir schmieden Reisepläne.

Mama ist zwar immer noch nicht die Mobilste. Wir haben ja auch noch nicht alle Gesundheitsbaustellen beackert: Unter anderem müsste der Hüftschaden noch operiert werden, den sie seit Geburt mit sich herumschleppt, und der mit dem Alter natürlich nicht besser geworden ist. Mit dem Rollator kann sie sich sehr gut fortbewegen, aber ohne ist es doch sehr schwierig. Davon abgesehen geht es ihr aber gut, die Augen tun wieder ihren Dienst, das Herz wird medikamentös ganz gut in Schach gehalten. Und da heißt es:

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Mama hat Wünsche. Sie möchte einige Orte sehen und Dinge nachholen, die sie in den letzten Jahren versäumt hat. Letzte Woche lief im ZDF die schöne Doku „Mit 80 Jahren um die Welt„, in der ein paar Achtzigjährige noch mal gemeinsam die ganze Welt bereisen. Das hat sie schwer beeindruckt. Seitdem ist ihre ohnehin schon beachtliche Wunschliste noch mal um ein paar Ziele gewachsen:

  • Sie möchte nach Kiel, wo sie in den Fünfzigern ihre Teenagerzeit verbracht hat. Ist so gut wie erledigt.
  • Sie möchte nach Helgoland. Wir werden am Hamburger Hafen in den Halunderjet steigen, morgens hin, abends zurück, vielleicht sogar noch während unseres Sommerurlaubes.
  • Bei uns steht auch noch eine Minikreuzfahrt Kiel-Oslo auf dem Zettel.
  • Sie möchte nach Grottkau. Das ist der Ort in Schlesien, in dem sie geboren wurde, und es ist ein sehnlicher Wunsch, dorthin noch mal zurück zu kehren. Hier wird es schon etwas schwieriger, denn die Fahrt dorthin wird lang, aber davon lassen wir uns natürlich nicht ins Boxhorn jagen. Wir fahren sie dorthin, mit Zwischenstopps, aber das benötigt etwas mehr Planung und Vorlaufzeit.
  • Sie möchte mit der Queen Mary 2 fahren. Vor der Transatlantik-Tour hat sie Angst, weil sie denkt, es sei ein ungutes Zeichen, dass die Titanic ausgerechnet an ihrem Geburtstag (allerdings einige Jahre vor ihrer Geburt) auf genau dieser Strecke gesunken sei. Obwohl New York sie durchaus reizen würde, vor allem die Hafeneinfahrt. Aber wir denken erst mal über Hamburg-Southampton nach.
  • Daran könnte man nämlich gut einen langersehnten London-Besuch mit Besichtigung des Buckingham Palace anschließen.
  • Sie möchte mit der transsibirischen Eisenbahn fahren, das ist der vermutlich am schwierigsten zu realisierende Wunsch.

Ich hoffe wirklich sehr, dass wir möglichst viele dieser Punkte möglichst bald abhaken können. Denn niemand weiß, wie lange es ihr noch so gut geht wie heute. Wir haben keine Zeit zu verlieren.

Mama wohnt jetzt seit fast zwölf Monaten bei uns in Hamburg. Wenn ich so zurück blicke, muss ich sagen, das war eine schöne Zeit bisher. Wir hatten schon so viele, schöne Momente, und sie sieht ihre Enkelin nun aufwachsen. Es gibt immer noch Tage, an denen ich das gar nicht glauben kann. Wie viel sich verändert hat, und wie gut es ihr inzwischen geht. Sie hat eine schöne, eigene Wohnung, in der sie gut zurecht kommt, mit einer großen Sonnenterrasse, auf der sie im Sommer sehr gern sitzt. Sehr komfortabel. Genau so wie das wirklich leckere Mittagessen auf Rädern, das sie fast täglich bezieht und sehr genießt, nachdem sie ja monatelang von mir bekocht wurde und dies zwar akzeptabel, aber bei Weitem nicht zufriedenstellend fand (ich werde das auch noch mal irgendwann verbloggen müssen).

Sie hat aus dem Stand Pflegegrad 3 bekommen.

Von wegen „Ich doch nicht!“, aber auch das ist noch einen schönen, weiteren Blogeintrag wert. Seitdem erhält sie nun täglich Besuch vom Pflegedienst, der morgens kommt, um die Medikamentengabe zu überwachen. Eigentlich kann sie das selbst, aber darum geht es irgendwie gar nicht. Es verschafft mir zwar Gewissheit, dass sie die Herzpillen täglich korrekt nimmt (vor der letzten Augen-OP fielen ihr einzelne Tabletten gern mal unbemerkt runter).

Aber viel wichtiger ist: Der Besuch gibt ihrem Tag Struktur, und die Pflegebediensteten sind zu Bekannten geworden. Durch den Notrufknopf an ihrem Arm kann ich sie nun halbwegs beruhigt alleine lassen, wenn ich an zwei Tagen in der Woche nach Lübeck muss. Und jeden Mittwoch schickt uns der Pflegedienst seit einiger Zeit die Haushaltshilfe Frau D., die mir das Putzen von Mamas Wohnung größtenteils abnimmt und mit ihr spazieren geht. Eine richtig strenge, resolute Dame, die Mama Beine macht, wenn sie keine Lust hat, rauszugehen oder in ihrem eigenen Haushalt zu helfen. Frau D. lässt sich nicht abwimmeln und dringt besser zu ihr durch als ich.

Aber ich bin ja auch nur die Tochter, auf mich muss man ja nicht hören.

Aber wenn eine nahezu Fremde einen Vortrag zum Thema „Wie wichtig Bewegung im Alltag ist“, dann fängt Mama ab dem nächsten Tag an, täglich Morgengymnastik zu machen. Eine bittersüße Erfahrung für mich, aber das Ergebnis zählt, und dann ist ja auch egal, wer sie dazu gebracht hat, Frau D. oder ich. Da darf ich nicht eitel sein. Ich liebe Frau D.  Ich wüsste schon gar nicht mehr, was wir ohne sie machen würden. Neben ihrer Hartnäckigkeit ist sie auch noch mit Humor ausgestattet. Beides braucht sie auch, bei meiner Mutter. Genauso wie der Optiker, bei dem wir heute waren. Der brauchte auch sehr viel Humor. Und Geduld. Ganz viel Geduld. Mamas zweite Augen-OP ist sehr gut verlaufen. Sie sieht jetzt wieder richtig viel, aber mit dem Lesen hapert es leider noch. Sie braucht eine Brille. Das passt ihr nicht, denn sie hat ja noch NIE eine Brille gebraucht, und wie sieht sie denn dann aus, mit so einem Nasenfahrrad, und wenn sie eine bekommt, dann trägt sie die mit Sicherheit nicht draußen.

Tritratrullalla.

Ein Theater. Aber sie kann es drehen und wenden, wie sie will. Lesen klappt nicht. Und das ist natürlich hinderlich, wenn man seine heißgeliebten Opern-Arien nicht mehr nachsingen kann, weil man die Noten und den Text nicht erkennt (ihren direkten Nachbarn stehen lustige Zeiten bevor!). Jedenfalls fanden wir uns heute beim Optiker wieder, um ihrer Gesichtsverunstaltung Vorschub zu leisten. Wir wurden gebeten, uns zunächst ein Gestell auszusuchen. Mama hatte keine Lust dazu, also stand ich auf, ließ meinen Scanner-Blick durch den Laden wandern und fand zielsicher das einzige Modell, bei dem ich mir sicher war, dass es ihr gefallen würde. Volltreffer. Ich kenne meine Mutter eben doch schon etwas länger. So weit, so unkompliziert. Doch dann folgte der schwierigere Part, das Vermessen der Augen mit verschiedenen Gläsern und Gerätschaften.

Optiker: „Und wie ist es jetzt?“

Mama: „Hervorragend, ganz hervorragend!“

Optiker: „Nein, ich meine, ist es jetzt besser oder schlechter?“

Mama: „Das weiß ich doch jetzt nicht mehr.“

Optiker: „Okay, drehen wir noch mal zurück.“ (klick) „Jetzt?“

Mama: „Nein, also DAS geht gar nicht.“

Optiker: „Alles klar, wieder zurück zur besseren Variante.“ (klick) „Stimmt’s?“

Mama: „Hm, nein, keine Änderung.“

Optiker: „Aber gerade sagten Sie doch, das wäre ganz hervorragend?“

Mama: „Geht so. Ich finde, es geht so.“

Ich (denke): „Willkommen in meiner Welt, lieber, armer Optiker.“

Optiker: „Und so?“

Mama: „Ja, das ist SUPER, jetzt sehe ich alles richtig scharf.“

Optiker (klickt): „Und jetzt?“

Mama: „Ja, ganz toll.“

Optiker: „Also besser als gerade?“

Mama: „Besser als was?“

Optiker: „ALS DAS GLAS DAVOR!!!!“

Mama: „Ach so. Nee, ungefähr gleich gut.“

Optiker (klick): „Und jetzt?“

Mama: „Keine Änderung.“

Optiker (klickt): „Und jetzt?“

Mama: „Immer noch. Gleich gut.“

Optiker (klickt): „Jetzt besser?“

Mama: „Immer noch gleich gut.“

Optiker (klickt): „Und nun?“

Mama: „Also, das zwei Gläser vorher, das war RICHTIG gut.“

Optiker: „Aha. Dann drehe ich das jetzt noch mal zurück.“ (klickt)

Mama: „Nein, furchtbar. Ganz schlecht.“

Ich entwickelte langsam Zweifel, ob der Optiker jemals dazu imstande sein würde, die richtige Stärke für Mama zu identifizieren. Sie machte es ihm wirklich nicht leicht.

Optiker: „Jetzt lesen Sie mal die Buchstaben in der ersten Reihe vor.“

Mama (kneift die Augen zusammen): „(………..) Ist das ein A?“

Optiker: „Das frage ich SIE!“

[Es war ein H]

Mama: „Also, A, G, K, F, O.“

[Alles falsch]

Mama: „Oder warten Sie. A, F, L, X, C. Ist doch richtig, oder?“

Optiker: „Nicht ganz, wir nehmen mal eine andere Tafel.“

Mama (vom Ehrgeiz getrieben, man hat ja schließlich noch Augen wie ein Adler!): „Nein, warten Sie, das kriege ich noch hin!“

Optiker: „Werte Dame, ich glaube, Sie haben den Sinn des Tests nicht verstanden. Es geht nicht darum, es zu schaffen. Sie können hier ja auch nicht durchfallen. Ich möchte ja nur herausfinden, was sie tatsächlich noch entziffern können.“

Mama (empört): „Sie sind ja nicht gerade motivierend!“

Optiker: „Es war nicht meine Absicht, Sie zu demotivieren. Dazu gibt es auch gar keinen Grund. Mit dem linken Auge kriegen Sie mit Brille wieder 80 Prozent.“

Mama: „Der Augenarzt hat aber was von 60 Prozent gesagt.“

Optiker: „Vielleicht war das ein Schätzwert?“

Mama: „Aber da muss man sich doch drauf verlassen können, dass man 60 Prozent bekommt, wenn der das sagt.“

Optiker: „Aber 80 Prozent sind doch besser, freuen Sie sich doch!“

Mama: „Auf nichts ist mehr Verlass! Ich frage mich auch, wieso ich nach der OP auf dem linken Auge besser sehe, als auf dem rechten?“

Optiker: „Das müssen Sie Ihren Augenarzt fragen.“

Mama: „Ja, aber auf dessen Angaben kann man ja offenbar nichts geben.“

Optiker: „Noch mal zurück zur Tafel. Die zweite Reihe bitte.“

Mama: „7, 4, 6, 8, 9.“

[Es waren alles Buchstaben]

Optiker (der Verzweiflung nahe): „Sind Sie sicher?“

Mama: „Natürlich bin ich mir sicher.“

Optiker: „Also, dann fangen wir jetzt noch mal von vorne an.“

Ich habe einen guten Arbeitgeber, bei dem man 10 Extra-Urlaubstage pro Jahr dazu kaufen kann. Das habe ich gemacht, und diese Tage nutze ich für die Termine, zu denen ich meine Mutter begleiten muss. Am heutigen Nachmittag hatte ich mir also Urlaub genommen. Manchmal ist arbeiten weniger nervenaufreibend.

Am 05.03.2018 hatte meine Mutter einen OP-Termin für die zweite Runde Grauer Star. Endlich. Und ja, Betonung auf „hatte“. Mir ist bewusst, dass der Termin in der Zukunft liegt, aber leider hatte er sich erledigt, bevor er hätte stattfinden können. Obwohl ich im Vorgespräch mit der Klinik mehrfach darauf hingewiesen hatte, man möge bezüglich dieser Angelegenheit ausschließlich mit mir kommunizieren, weil ich alle Termine meiner Mutter koordiniere, weil sie es nicht selber tun kann, rief die Klinik bei meiner Mutter an und teilte ihr mit, der Termin müsse verschoben werden. Meine Mutter rief mich daraufhin atemlos an, und ich konnte zusehen, wie ich die Kohlen wieder aus dem Feuer bekam.

„Der Chefarzt hat Urlaub genommen.“

Nun, dachte ich, die Klinik würde den OP-Termin schon aus gutem Grund verschieben, aber geklärt werden musste das dennoch. Ich meldete mich also bei der Hamburger Augenklinik am anderen Ende der Stadt, mit der wir in dieser Angelegenheit zu tun hatten. Unter der angegebenen Nummer war entweder dauerbesetzt, oder es ging einfach niemand ran. Meiner Hartnäckigkeit sei Dank hatte ich schließlich die liebe Frau M. am Telefon.

„Ja, das ist richtig. Wir mussten den OP-Termin Ihrer Mutter um eine Woche nach hinten verschieben, auf den 12.03.2018.“ sagte Frau M.

„Tja. Das geht nicht.“ erwiderte ich gelassen.

„Warum nicht?“ kam natürlich verständnislos zurück.

„Ganz einfach: Weil meine Mutter nicht dazu in der Lage ist, ohne Begleitung zur OP zu fahren, und weil ich die einzige Person weit und breit bin, die sie begleiten kann, und weil ich genau in dieser Woche im Urlaub bin. Ich habe meinen Urlaub so geplant, dass ich zuerst mit meiner Mutter die Augen-OP machen und anschließend wegfahren kann.“ schilderte ich die Lage, tief einatmend.

„Ach so. Aber wenn wir das verschieben, wird es Anfang April.“ erhielt ich darauf als Information. Ich atmete erneut tief ein. Ist der Geburtsvorbereitungskurs vor neun Jahren doch noch für irgendwas gut gewesen.

„Wieso musste der erste Termin denn überhaupt verschoben werden?“ erlaubte ich mir, mal freundlich nachzufragen. Nur so aus Interesse. Und weil ich der Meinung war, ein Recht auf Hintergrundinformationen zu haben und nicht einfach mit einer Terminverschiebung abgespeist zu werden. Hätte ich lieber gelassen.

„Ähm. Na ja. Also.“ stotterte es aus der Leitung zurück, und ich wurde hellhörig. „Nun ja. Der Chefarzt hat sich zum ursprünglichen OP-Termin spontan Urlaub genommen.“

„Ach so!“ lachte ich ebenso spontan auf. „Das ist aber schön für den Chefarzt! Und sagen Sie, ist er der einzige weit und breit, der diese OP durchführen kann?“ Diese Frage würde ja wohl erlaubt sein.

„Ja.“ ihrem Tonfall zufolge war das die selbstverständlichste Sache der Welt, dass eine namhafte Klinik ihre OP-Termine Monate im Voraus auf Basis einer solch dünnen Personaldecke machte. Was war ich doch naiv, dass ich dachte, dort gäbe es Vertretungen und mehr als einen einzigen Arzt, der sich dieser OP annehmen konnte. Abwegig!

„Ach. Okay. Und wer garantiert mir jetzt, dass dem werten Chefarzt Anfang April nicht nochmal spontan der Sinn nach Urlaub steht?“

„Niemand.“ erhielt ich als Antwort.

„Wissen Sie, auch wenn Sie das vielleicht überrascht, aber es ist nämlich nicht so, dass ich hier an 24 Stunden am Tag rumsitze, Däumchen drehe und darauf warte, meine Mutter irgendwohin begleiten zu können. Ich habe einen Vollzeitjob, ein Kind und – na ja, ein Leben eben, das ich drumherum organisieren muss. Das heißt, für den neuen Termin…

a) frage ich jetzt den Vater meiner Tochter, der auch voll berufstätig ist, ob er an diesem Termin Zeit hat, unsere Tochter von der Schule abzuholen,

b) nehme ich extra einen meiner kostbaren Urlaubstage, weil es nicht anders geht, und verschiebe Meetings, die für diesen Tag geplant waren,

c) reorganisiere ich private Termine, die ebenfalls an diesem Tage stattfinden sollten.

Da hätte ich schon gern eine etwas konkretere Zusage als ‚Kann ich nicht versprechen, dass der Doktor da nicht wieder in den Urlaub fährt.'“

Schweigen am anderen Ende. Seufzen am anderen Ende. Dabei sollte ich doch diejenige mit dem Monopol auf kellertiefe Seufzer haben, in diesem Kontext!

„Ich kann es nicht versprechen.“ gab Frau M. matt zurück.

„Okay. Dann Anfang April. Ich trage mir jetzt den neuen Termin ein und organisiere alles um. Bitte, bitte, bitte melden Sie sich direkt bei mir, falls wieder irgendwas dazwischen kommen sollte. Und sagen Sie: Wir hätten ja jetzt auch den Termin zur Narkose-Vorbesprechung gehabt. Muss der auch verschoben werden, oder kann der bleiben?“ fragte ich vorsichtshalber nach, denn mit meiner Mutter unternahm man am liebsten so wenige Extratouren wie möglich ins Krankenhaus. Es ist nämlich in der Regel kein Spaziergang.

„Nein, der Narkosetermin kann bestehen bleiben, gar kein Problem.“ winkte sie ab, und ich war erleichtert, hätte aber stattdessen alarmiert sein müssen.

„Und muss ich zum Narkosetermin bereits die Einweisung vom Augenarzt mitbringen?“ erkundigte ich mich noch; woran man nicht alles denken musste!

„Nein, die brauchen Sie erst am Tag der OP.“ verkündete Frau M. mit dem Brustton der Überzeugung.

Tja. Und dann kam der Tag der Narkosevorbesprechung.

Apropos „Es ist nämlich in der Regel kein Spaziergang“

Frühmorgens mussten wir mit dem Taxi quer durch Hamburg, an einem Tag, an dem das Wetter es für angemessen hielt, uns 15 Zentimeter Neuschnee mit auf den Weg zu geben, und an dem das Schicksal uns einen Taxifahrer bescherte, der nicht mit seinem Automatikgetriebe umgehen konnte und des Deutschen kaum mächtig war. Zwei Stunden. Zwei Stunden Stop and Go, Vollgas und Vollbremsung, immer wieder. Meine verzweifelten Versuche, dem Mann das von der Rückbank drohende drohende Unheil mit Händen und Füßen zu erklären, verpufften. Meine stöhnende Mutter kündigte immer wieder an, sich gleich übergeben zu müssen. Ich konnte nicht genau sagen, wie ernst die Lage wirklich war, da sie per sé nicht die Leidensfähigste ist und zu leichten Übertreibungen neigt, aber darauf ankommen lassen wollte ich es natürlich auch nicht.

Der Taxifahrer wiederum war kein Meister in Sachen gelassener Fahrweise geschweige denn dazu in der Lage, den Anweisungen seines Navigationsgerätes angemessen Folge zu leisten. Sobald das Navi eine Schlagdistanz von weniger als einem Kilometer anzeigte, schaffte er es zuverlässig, verkehrt abzubiegen und die Restrecke wieder auf mehrere Kilometer auszudehnen, da an diesem Tag dank diverser Unfälle sämtliche Einfallstraßen gesperrt waren. Spoiler: Auch diese Fahrt hatte dennoch ein Ende, und meine Mutter musste sich nicht übergeben.

Nach den bis dato längsten zwei Stunden meines Lebens stand ich endlich an der Patientenannahme der Augenklinik, und was bekam ich zu hören?

„Nein, wenn die OP erst in vier Wochen ist, können Sie den Narkosetermin nicht heute machen, wer hat Ihnen das denn erzählt?! Dazwischen dürfen höchstens zwei Wochen liegen!“

Und:

„Wo ist die Krankenhauseinweisung Ihres Augenarztes?“

Wir hatten es allein meiner liebenswürdig-diplomatischen Art zu verdanken, dass wir an diesem Tag nicht unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt wurden.

Manchmal kann ich auch Drama. Wenn ich muss. Was in letzter Zeit für meinen Geschmack viel zu oft der Fall ist.

Ich brauche sowas nicht.

So ein Ding ist total unnötig.

Ich habe nicht darum gebeten.

Bitte, was hat der gekostet? Ach Du liebe Zeit!

Interessiert mich doch nicht, dass der überall Testsieger ist. Der wird hier nur rumstehen, Dein Testsieger.

Ja, ich habe ihn in der Wohnung benutzt. Na und?

Manchmal ist er schon ganz hilfreich. An so Tagen, an denen ich mich nicht so fühle.

Das Ding ist total segensreich. Du hast ihn genau zur richtigen Zeit angeschafft.

Ich sehe ihn jetzt als Trainingsgerät.

Das wäre dann die Geschichte von Mutti und ihrem neuen Ferrari. Wir versuchen, das Wort „Rollator“ zu vermeiden. Einen Rollator zu benutzen ist für sie ungefähr gleichbedeutend, als würde sie sich das Wort „ALT“ einfach direkt auf die Stirn tätowieren lassen. Weshalb man sich natürlich selbstredend so lange gegen das Ding sperrt, bis man ihn auch gleich überspringen und sich direkt in den Rollstuhl verfrachten lassen kann.

Nein, da nutzte gutes Zureden meinerseits mal wieder äußerst wenig. Es musste schon das quietschfidele, vorurteilsfreie Enkelkind um die Ecke gepest kommen und den Ferrari für sich entdecken, bis man den skeptischen Blick mal weitete und merkte, dass es gar nicht so furchtbar war, sich ein Hilfsmittel zu genehmigen. Das Enkelkind hat sich nämlich gnadenlos auf das neue Fortbewegungsmittel gestürzt und damit jauchzend Wettrennen mit sich selbst quer durch die Wohnung veranstaltet. Hätte meine Mutter nicht für möglich gehalten, dass man mit dem Ding Spaß haben kann. Hat sie auch nicht. Jedenfalls streitet sie es vehement ab.

Sie hat es aber auch nicht leicht.

Und das meine ich jetzt gar nicht ironisch. Zwar hat sich in den letzten Monaten seit ihrem Umzug vieles zum Besseren gewendet:

  • Sie ist jetzt bei einem guten Hausarzt, der ihr Herz regelmäßig prüft.
  • Sie nimmt jetzt die richtigen Herztabletten.
  • Und das regelmäßig.
  • Sie hat die ersten Wochen fast ausschließlich in der Sonne auf ihrer Terrasse gesessen.
  • Wir haben das Haus verkauft.
  • Es gibt jetzt einen Notrufknopf an ihrem Handgelenk (ähnliche Dramaturgie wie beim Rollator, versteht sich).
  • Mit angeschlossenem Notdienst, der direkt in die Wohnung kommt und mich benachrichtigt.

Manches ist aber leider auch schlechter geworden. Aus dem grauen, pfeifenden Star wurde ein grüner. Die Seele leidet noch immer unter all den Ereignissen des Jahres 2017. Die Hüfte ist kaputter, als ich gedacht habe, und es besteht ein Verdacht auf beginnende Demenz, der noch nicht ausdiagnostiziert wurde. Nach einem Sturz im Bad neulich machte sie das erste Mal Bekanntschaft mit einem Hamburger Krankenhaus, und seitdem gibt es endlich einen Eilantrag in Sachen Pflegegrad. Viel schneller geht das Ganze allerdings dadurch auch nicht, ich warte seit zwei Wochen auf Rückmeldung und harre gespannt der Dinge. Denn eines steht fest: Alleine schaffen wir das alles nicht, wir brauchen Unterstützung. Durchatmen is‘ nicht, im Gegenteil: Ein langer Weg liegt vor uns, mit vielen Arztterminen, viel Bürokratie und mit Sicherheit einigen Unwegsamkeiten.

Denn wenn ich eines in den letzten Monaten gelernt habe, dann das: Sobald ich auch nur annähernd denke, jetzt hätte ich aber langsam mal alles geregelt und nun würde es ruhiger werden, kommt das nächste, unvorhergesehene Ereignis um die Ecke und wirft alles über den Haufen. Aber: Was auch immer es ist, ich muss dafür nicht mehr nach Düsseldorf fahren. Wir sind beide hier, und wir sind zusammen, und das ist gut.

Nun ist es passiert. Mama wohnt drei Haustüren weiter. Und das hört sich so simpel an, aber in Wahrheit war es ein Akt. Umziehen ist ja immer einer. Und wenn man nicht selbst umzieht, sondern den Umzug für jemand anderen organisiert, und wenn dieser andere jemand die eigene Mutter ist, und wenn mit dem Umzug nicht nur organisatorischer Aufwand, sondern auch der Abschied vom eigenen Elternhaus einher geht, dann ist es eben doch noch mal was ganz anderes. Ich werde mal versuchen, die letzten drei Wochen anhand der mir am häufigsten gestellten Fragen Revue passieren zu lassen. Hier meine Top5:

1.) Wo ist mein… (hier wahllos irgendeinen Haushaltsgegenstand einsetzen)?

Es ist ja nicht so, als sei ich besonders chaotisch, wenn es ums Umziehen geht. Es gab schon Umzüge, da hatte ich zu viel Zeit und habe jeden Karton durchnummeriert und den Inhalt feinsäuberlich in einer Excel-Liste dokumentiert. So einen Unsinn mache ich nach sieben Umzügen in neun Jahren nicht mehr, aber es hat dennoch alles seine Ordnung bei mir, natürlich auch beim Umzug meiner Mutter. Das Problem ist nur, dass sie ja nichts mehr sieht. Sie hat also selbst nicht gesehen, in welche Kartons ich was gepackt habe und in welchen Schrank ich es wieder ausgepackt habe. Und was sie nicht selbst sieht, glaubt sie nicht. Wo kämen wir denn da hin, wenn sie sich auf meine Erzählungen verließe. Alles selbst nachzuprüfen, ist ihr aber zu anstrengend. Hinzu kommt, dass der Ortswechsel sie sowieso mental überfordert. Und so stellt sie mir drei Millionen Mal an einem Tag dieselbe Frage nach dem Verbleib ein und desselben Gegenstandes, die ich ihr natürlich gerne beantworte, und dann hat sie diese Information nach fünf Minuten wieder vergessen. Als wäre sie geblitzdingst worden. Vielleicht reißt bei uns aber auch einfach nur ständig die Matrix. Was weiß denn ich!?!

2.) Wann kommst Du wieder?

Zwanzig Jahre. So lange lebe ich fernab meiner Eltern ein eigenständiges Leben in Hamburg. Kommen und gehen, wann man will, tun und lassen, was man will. Das ist nun Geschichte. Ich habe jetzt wieder eine Mutter. Nicht, dass ich vorher keine gehabt hätte, aber sie ist eben nicht präsent gewesen. Meine Mutter lebte ihrerseits schon immer nach dem schönen Motto „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Jahrelang hatte sie also kaum eine Ahnung, was ich im Alltag so treibe und konnte sich daher auch nicht einmischen. Nun weiß sie praktisch alles: Wo ich wann hingehe, welche Besorgungen ich mache, mit wem ich wann – und vor allem wie lange – verabredet bin. Das ist für beide Seiten noch gewöhnungsbedürftig. Sie hat plötzlich wieder Action in ihrem Leben, und ich einen Kontrolletti an meiner Seite. Wer sich mit 38 schon immer mal wieder fühlen wollte wie mit 14, dem kann ich das Modell „Mama zieht zu mir“ nur wärmstens empfehlen. Ein wahrer Jungbrunnen. Haha. Ha.

 

3.) Kann ich hier noch irgendwas selbst entscheiden?

Eine rhetorische Frage, über die ich mich anfangs stets aufgeregt habe, um dann festzustellen, dass genau das ihre Absicht gewesen ist. Seitdem antworte ich nur noch: „Natürlich nicht. Warum auch?“ und erreiche damit jedesmal eine leichte Pulsveränderung auf der Gegenseite. Ich weiß, ich darf die herzkranke Frau nicht zu sehr aufregen, aber alles gefallen lassen muss ich mir deshalb noch lange nicht. Mama konnte aufgrund ihrer gesundheitlichen Defizite keine einzige Kiste selbst packen. Also habe ich das alles gemacht, und ich habe es gern getan. Anfangs war ich außerdem bemüht, sie bei jedem Einzelteil um ihre Meinung zu fragen, hinsichtlich der Entscheidung, was mitsollte und was wegkonnte. Das erwies sich als mehr oder weniger unpraktikabel, weil wir auf diese Weise drei Stunden pro Kiste brauchten, aber nur ein einziges Wochenende Zeit hatten, um alles einzupacken. Und weil Mama stets nach zehn Minuten keine Lust mehr hatte, Entscheidungen zu treffen. Also blieb auch das an mir hängen. Ich musste mir also beispielsweise die Frage, ob die stumpfe, uralte Krups-Brotschneidemaschine in der neuen Küche tatsächlich noch Verwendung finden würde, selbst beantworten. Ergebnis: Sie steht noch in Düsseldorf. Das ist natürlich unverzeihlich. Immer, wenn Mama herausfindet, dass ich irgendetwas ohne sie entschieden habe, wird mir mit dem Brustton abgrundtiefster Empörung Frage Nummer drei gestellt. Wir drehen uns in letzter Zeit desöfteren im Kreise.

4.) Warum musst Du nur immer so übertreiben?

Direkt in der ersten Woche habe ich mit Mama die ersten Arztbesuche hier in Hamburg absolviert. Wir haben gleich mehrere Baustellen zu beackern: Das Herz muss regelmäßig zum Ärzte-TÜV, es fehlt noch die Grauer-Star-OP am linken Auge, und die Hüfte dürfte auch mal wieder zum Onkel Doktor. Mit dem Hausarzt haben wir angefangen, und dort bekommt man ja erst mal einen Fragebogen zum allgemeinen Gesundheitszustand in die Hand gedrückt. Es war nicht gerade leicht, bei der Beantwortung der einzelnen Punkte einen gemeinsamen Nenner zu finden. Als wir uns zur Frage nach dem regelmäßigen Alkoholkonsum durchgekämpft hatten, waren Mutter und Tochter aufgrund der vorangegangenen Wortgefechte nicht gerade bester Stimmung. Nun folgte also: Trinken Sie regelmäßig Alkohol? Dazu muss man wissen: Mama hat in den letzten zwei, drei Wochen eine Vorliebe für Underberg als Betthupferl entwickelt. Ich beobachte diese Entwicklung argwöhnisch, muss ihr aber zugestehen: Hätte ich erst vor Kurzem meinen Mann verloren, mit dem ich 43 Jahre verheiratet war, und hätte meine Tochter mich drangsaliert, 500 Kilometer zu ihr in den Norden zu ziehen, herzkrank und nichtssehend, bräuchte ich vermutlich abends mehr als einen Underberg vor dem Einschlafen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass man auf diese Frage nicht einfach guten Gewissens mit „Nein!“ antworten kann. Ich kreuzte „Gelegentlich“ an und bekam oben stehende Frage zu hören. Mal wieder.

5.) Warum bist Du noch nicht wieder zurück?

Diese Frage schließt sich in der Regel nahtlos an Frage 2 an. Mama hat jetzt wieder Festnetz in Hamburg, und sie macht regen Gebrauch davon. Gestern klingelte mein Handy, als ich gerade in der Spirituosenabteilung des Supermarktes stand. „Du wolltest doch um halb sechs wieder da sein!“, schallte es mir um fünf nach halb sechs im vorwurfsvollen Ton entgegen. Da hatte sie wohl irgendwie vergessen, dass sie mich zwei Stunden zuvor mit einer Einkaufsliste von der Länge einer abgewickelten Klopapierrolle losgeschickt hatte, um in mindestens fünf verschiedenen Geschäften ihre Wünsche zu erfüllen, und ich verteidigte mich wahrheitsgemäß mit der Angabe, ich sei gerade auf der Suche nach ihrem Martini Rosso, nach dem sie ausdrücklich verlangt hatte, weil sie mal Abwechslung vom Underberg wollte. So viel zum Thema „gelegentlich“.  Sie wechselte wie immer geschickt das Thema, indem sie mir einen Vortrag über Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit hielt, ohne zu merken, dass ich mein Smartphone in den Einkaufskorb gelegt hatte und nur noch am Rande zuhörte. Bis sie mir in voller Lautstärke die Frage stellte, ob ich auch brav an diesem nasskalten Regentag mein Unterhemd angezogen hatte. Da habe ich dann aufgelegt. Unter den mitleidigen Blicken der anderen Kunden vor dem Schnapsregal.

Fazit nach drei Wochen

Ja, wir müssen uns noch eingrooven. Ja, ich habe das alles so gewollt. Ja, ich bin vielleicht ein bisschen bescheuert. Nein, es ist nicht immer einfach. Aber es macht mich einfach nur glücklich und froh, dass sie hier ist, in meiner Nähe. Es ist ein Geschenk, Zeit mit ihr verbringen zu dürfen und mich um sie zu kümmern. Vorgestern waren wir zusammen an der Ostsee, von der sie nicht gedacht hatte, sie in ihrem Leben noch mal zu sehen zu bekommen. Die Freudentränen in ihren Augen waren und sind all das wert.

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