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Eltern-Kind-Verhältnis

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Tja, und nun sitze ich hier, im elterlichen Wohnzimmer, und habe eine Tafel Marzipanschokolade auf dem Schoß. Es war Papas Lieblingsschokolade, und die letzte Tafel, die ich online für ihn bestellt habe. Ich werde sie jetzt gleich öffnen und aufessen, und das macht mich gerade sehr glücklich. Weil ich weiß, dass er sie mir angeboten hätte. Mit einem Glas Wasser. Er hat immer allen Gästen ein Glas Wasser oder etwas anderes zu trinken angeboten.

Leider sitzt er mir nicht mehr gegenüber, auf seinem Lieblingssofaplatz.

Und dort wird er auch nie wieder sitzen. Papa ist vergangene Woche von uns gegangen. Es ging leider alles sehr schnell. Wie ich bereits schrieb, musste ich ihn letzten Mittwoch von Hamburg aus mit Verdacht auf Dehydrierung in Düsseldorf ins Krankenhaus einliefern lassen. Vor der Einlieferung plagte ihn bereits seit mehreren Tagen ein Magendarm-Virus, mit welchem eine deutliche Schwächung und ein großer Wasserverlust einhergingen. Ich vermute zudem, dass seine Parkinsonmedikamente in dieser Zeit nicht mehr anschlugen, sofern er sie denn überhaupt noch genommen hatte. Dann ist er auch noch mehrfach böse gestürzt, was allerdings noch halbwegs glimpflich ausging, von einigen heftigen Hämatomen an der Schulter und in der Seite einmal abgesehen. In diesem schlechten Allgemeinzustand wurde er eingeliefert und sofort an den Tropf gehängt. Die ersten beiden Tage ging es noch aufwärts. Seine Werte verbesserten sich, er entwickelte wieder mehr Appetit und war der Lieblingspatient der Oberschwester.

Eines war da allerdings schon klar: Nach Hause zurück würde er nicht mehr können.

Darin waren die Sozialmanagerin des Krankenhauses und ich uns sofort einig, nachdem sie Papa besucht hatte. Ihr Spezialgebiet: Pflegeüberleitung. Ein sehr wichtiger Job und eine großartige Unterstützung für Angehörige wie mich. Meine nächste Spende geht definitiv an diese Einrichtung. Ich kann gar nicht sagen, wie hilfreich sie war. Sie sprach mit Papa, der zu diesem Zeitpunkt geistig noch anwesend und zu Antworten in der Lage war. Und siehe da: Er willigte endlich, endlich, endlich ein, sich vom Medizinischen Dienst in einen Pflegegrad einstufen zu lassen. Er hatte nun eingesehen, pflegebedürftig zu sein und wollte Mama nicht mehr zumuten, sich 24 Stunden am Tag um ihn kümmern zu müssen. Ich war erstaunt über so viel Einsicht und erleichtert zugleich. Die Sozialmanagerin krempelte die Ärmel hoch, um einen Kurzzeitpflegeplatz für meinen Vater für die Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt zu organisieren, erst mal hier vor Ort in Düsseldorf. Mein Job war es, gleichzeitig in Hamburg einen Langzeitpflegeplatz zu finden, für die Zeit nach der Kurzzeitpflege. Wir begannen zu telefonieren und alles Notwendige in die Wege zu leiten.

Doch dazu kam es dann leider nicht mehr.

Sein Zustand verschlechterte sich am fünften Tag des Krankenhausaufenthaltes plötzlich. Zufällig waren wir exakt in diesem Moment vor Ort. Wir kamen in sein Zimmer, da wollte er sich gerade aufsetzen, weil er über  „unwahrscheinliche Schmerzen“ in der Seite klagte, auf die er vor ein paar Tagen gefallen war. Nun wollte er sich durch einen Positionswechsel Erleichterung verschaffen und eigentlich am liebsten ganz aus dem Bett aussteigen, wozu er allerdings gar nicht imstande war. Gleichzeitig schimpfte er. Die Pflegerinnen hatten kurz zuvor versucht, ihn zu mobilisieren. Es war ihm ja gut gegangen bis dato, also lautete ihr Plan, ihn so schnell wie möglich wieder an Bewegung zu gewöhnen. Allem Anschein nach wollten sie mit ihm den Sitz auf der Bettkante üben. Er schimpfte darüber, weil es ihm überhaupt nicht recht gewesen ist. Er hätte richtig schuften müssen. Und hinzu kam, dass die Übungen offenbar Schmerzen ausgelöst hatten. Die nun immer schlimmer wurden. Er bekam zuerst ein orales Schmerzmittel, was aber kaum anschlug. Die nachfolgende Schmerzspritze hingegen tat es. Er beruhigte sich zusehends, fiel aber in eine Art Delirium.

Das Leben zog in Bildern an ihm vorbei.

Er war nun nicht mehr ansprechbar. Zwar nahm er uns zwischendurch immer mal wieder wahr, allerdings nur sehr kurz. Er fragte namentlich nach seiner Enkelin und wollte, dass ich ihn umarme und ihm einen Kuss gebe. Ich kam seinem Wunsch nach und tupfte ihm immer wieder Schweiß von der Stirn. Er erzählte mit offenen Augen von Erlebnissen aus seinem Leben, als würde er sie gerade noch mal durchleben. Da wusste ich, dass er gehen würde. Es war sichtbar, es war ahnbar. Die kommende Nacht und den kommenden Tag sollte er noch erleben, aber in der zweiten Nacht riss mich ein Anruf aus dem Tiefschlaf, den ich vermutlich nie wieder vergessen werde. Die Stürze, die Dehydrierung, der Magendarm-Virus und die Parkinsonerkrankung hatten ihn auf seinen letzten Weg geführt.

Tschüß, Papa.

Wie schade, dass wir keine Zeit mehr zusammen haben. Wie schade, dass ich ihn in Hamburg nicht mehr betüdeln kann. Schade, dass wir nie wieder zusammen Fußball gucken werden. Schade. Es gibt so viel, wofür ich ihm dankbar bin, und all das habe ich in seinen Abschiedsbrief geschrieben. Dann bin ich in den vergangenen Tagen wie ein Duracell-Häschen durch den Ort gerannt, um alles zu organisieren.

Nach vier Tagen erst konnte ich mich zum ersten Mal zurück lehnen.

Es ist verrückt, woran Angehörige sofort denken müssen und welche Formalitäten danach verlangen, sofort erledigt zu werden, um keine Nachteile zu erfahren. Und das mitten in der Trauer. Beispielsweise bin ich in der einen Nacht um 1:30 Uhr aus dem Bett gesprungen, weil mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel, dass die Lebensversicherung noch nicht Bescheid weiß. Und die wollen spätestens 48 Stunden später eine Nachricht bekommen, sonst ziehen die sich aus der Affäre. Ich habe es exakt nach 47 Stunden und 59 Minuten geschafft, sie per E-Mail zu benachrichtigen. Aber das ist noch mal eine andere Geschichte. Ich hantiere hier mit To-Do-Listen, Verpflichtungen und Entscheidungen, die ich gar nicht treffen möchte, aber treffen muss. Ich suche Blumen für ihn aus, seinen Sarg, seinen Grabschmuck, seine Totenkleidung, ich hole Unterschriften ein, beantrage Gelder für Mama, gebe Trauerbriefe in Auftrag, deren Texte ich mitten in der Nacht schreibe, um dann panikerfüllt erst im Nachhinein zu checken, ob ich auch bloß keinen Rechtschreibfehler eingebaut habe (habe ich nicht, Redakteursroutine sei Dank). Und ich führe Gespräche darüber, welche Inhalte wir uns in seiner Trauerrede wünschen. Als Musik gibt es Bachs Air und James Lasts Biscaya, das hätte ihm gefallen.

Kommenden Freitag findet die Beerdigung statt.

Bis dahin funktioniere ich, habe aber zwischendurch sehr traurige Momente. Mit seiner Lieblingsstrickjacke in der Hand saß ich neulich zusammengesunken auf seinem Lieblingssofaplatz, da war ich noch nicht so weit wie jetzt. Jetzt kann ich mir die Erlebnisse von der Seele schreiben, und jetzt kann ich mit einem Lächeln hier sitzen und seine letzte Tafel futtern. Marzipan. Auf Dich, Papa.