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Licht und Schatten

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Nachdem sich mein Vater im März vergangenen Jahres endlich dazu durchgerungen hatte, dem Umzug zuzustimmen, um es sich dann im November anders zu überlegen, sich dann im Dezember aber noch mal Bedenkzeit erbat, warte ich auf das Ende eben dieser. Wenn wir mittwochs die Bestellung erledigen, frage ich meist noch mal ganz dezent nach, ob denn die Entscheidungsfindung nun in Bälde abgeschlossen sei. Nicht, dass ich mir noch große Hoffnungen auf eine konkrete Ansage machen würde, aber manchmal überraschen mich die Antworten dann doch. So wie beim letzten Mal. Da kam sie auch so plötzlich, die Antwort. Zwischen Milchtütenproblematik und Apfelsaftbestandsdiskussion. Mit anderen Worten: Ich war darauf in dieser Sekunde nicht vorbereitet. Es lief ungefähr folgendermaßen ab.

Mama: „Wir brauchen Orangensaft. Insgesamt sechs Mal.“

Ich: „Alles klar.“

Mama: „Und diesmal keine Milch. Um Gottes Willen, keine Milch! Davon ist noch massenhaft da.“

Mir ist zwar schleierhaft, was sie mit „massenhaft“ meint, denn meinen Berechnungen zufolge dürfte es sich allerhöchstens noch um 1 einsame Tüte handeln, aber gut. Ich bin inzwischen weit davon entfernt, die Mengenplanung meiner Mutter infrage zu stellen. Weshalb sollte sie auch innerhalb einer Woche nicht sechs Flaschen Orangensaft, dafür aber nur eine Tüte Milch verbrauchen. Wer bin ich, das zu kritisieren?

Ich: „Okay. Keine Milch. Keine Sorge, ich bestelle keine Milch.“

Papa (zählt derweil im Hintergrund wie immer den Getränkebestand durch): „Apfelsaft ist alle.“

Mama: „Nein, keinen Apfelsaft. Ich habe schon Orangensaft bestellt.“

Ich (kann nun doch nicht umhin, einen vorsichtigen Gegenvorschlag zu machen, begebe mich aber mal wieder auf ganz dünnes Eis): „Du könntest es ja anders aufteilen. Statt sechs Flaschen O-Saft vielleicht nur 3, dafür aber auch 3 Flaschen Apfelsaft.“

Mama (hörbar erzürnt): „Nein.“

Ende der Durchsage.

Mama: „Ich wollte zwischendurch mal fragen, wie geht es eigentlich L?“(meiner Tochter, Anm. d. Red.)

Papa (ungeduldig): „Nein, jetzt machen wir erst mal die Bestellung fertig!“

Läuft ja mal wieder wie am Schnürchen heute.

Mama: „Ich werde mich doch wohl noch nach meinem Enkelkind erkundigen dürfen, oder seit wann ist das verboten?!?“

Papa: „Ja? Na dann könnte ich ja auch mittendrin erzählen, dass wir uns eine neue Variante in Sachen Umzug überlegt haben!“

Ich (aufhorchend): „Ach ja? Welche denn?“

Papa (kapitulierend): „Wir werden uns eine kleine Wohnung in Düsseldorf mieten und eine Ferienwohnung in Hamburg kaufen. So können wir einige Wochen im Jahr an beiden Orten verbringen. Die perfekte Lösung.“

Stille. Denn ich brauche so 5-10 Sekunden, um die Informationen zu verarbeiten. Mir kommt die Lösung nämlich nicht ganz so perfekt vor, wie sie mir angepriesen wird. Mir schießen stattdessen so Tatsachen durch den Kopf wie die Immobilität meiner Eltern oder beispielsweise die Frage, ob das Modell „ein Wohnsitz in Düsseldorf und einer in Hamburg“ finanziell gesehen im Verhältnis zur Rente meiner Eltern nicht eine Spur zu mondän daherkommt. Aber ich will nicht direkt den Spielverderber geben, wo ich schließlich froh sein kann, dass sie offenbar endlich damit angefangen haben, miteinander darüber zu sprechen (und nicht bloß mit mir, am Telefon, weil ich regelmäßig damit herumnerve).

Ich: „Äh. Hm. Ja. Und wie kommt Ihr dann immer von Hamburg nach Düsseldorf und wieder zurück?“

Papa (verständnislos): „Wieso? Du fährst uns, das ist doch wohl klar!“

Ich: „Ach so?“

Papa: „Ja, etwa nicht?“

Ich: „Öhm. Wie oft denn so?“

Papa: „Na, alle paar Wochen höchstens.“

Ich: „…“

Papa: „Was hast du denn nun daran wieder auszusetzen?!“

Ja, echt mal, dem undankbaren Kind kann man es aber auch nie recht machen!

Mal unter uns gesagt: Ich halte das nicht für praktikabel. Und zwar nicht deshalb, weil ich sie nicht fahren würde. Inzwischen würde ich sie auch freiwillig zum Mond und wieder zurück fliegen, wenn das bedeutete, dass ich sie einige Wochen im Jahr in meiner Nähe hätte und mich kümmern könnte. Das Problem, das ich darin sehe: Sie sind zu solchen Fahrten vermutlich gar nicht mehr in der Lage. Viereinhalb Stunden pro Tour – das darf man mit 80 auch nicht unterschätzen. Aber, ich habe ja nunmal vor, sie in allem zu unterstützen, ganz egal, wie ihre Entscheidung ausfällt. Und wenn es das ist, was sie möchten – so sei es.

Ich: „Gar nichts, Papa. Ich bin voll bei Euch.“

Wo auch immer.

Manchmal fühlt es sich an, als hätte ich plötzlich zwei Kinder mehr. Nur, dass sie 500 Kilometer entfernt wohnen, erwachsen und selbstbestimmt sind, in der Ferne aber immer weniger alleine zurecht kommen.

Allerdings:

Während Kinder vorwärts gehen, größer werden, dazulernen, läuft es bei meinen Eltern umgekehrt. Die Entwicklung geht rückwärts vonstatten. Jahrzehntelang waren sie erwachsen, hatten ihr Leben selbst im Griff, haben ihr eigenes Geld verdient, ein Haus gekauft, ein Kind großgezogen. Und nun verlieren sie mehr und mehr, Stückchen für Stückchen die Befähigung dazu, ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben führen zu können. Das ist bitter, und damit müssen sie erst mal klar kommen, und ich auch. Es ist seltsam, das mit anzusehen.

Gleichzeitig drehen sich die Verhältnisse: Eltern werden so manches Mal zu bockigen, hilfsbedürftigen Wesen, und die Kinder tragen auf einmal ein gutes Stück Verantwortung für das Leben von Mutter und Vater mit.

Plötzlich bin ich die Vernünftige von uns und höre mich selbst Sätze sagen wie:

Wie habt Ihr Euch das denn alles vorgestellt? Wie soll es in Zukunft weitergehen?

Oder:

Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, dass das alles so nicht bleiben kann.

Und dann sehen sie mich irritiert an, weil ich wie meine eigene Mutter klinge, die sonst auch immer den „gesunden Menschenverstand“ bemüht hat, sobald ihr in meinem Leben etwas nicht in den Kram passte, wie zum Beispiel:

Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, dass man nicht bis 6 Uhr nachts irgendwelche amerikanischen Basketballspiele guckt, wenn man am nächsten Morgen Mathe-Abitur schreibt!

Sagen wir mal so: Eine Nacht mehr Schlaf hätte an meiner Mathe-Fünf im Abi auch nichts mehr geändert, aber so ganz falsch lag Mama damit natürlich nicht.

Manchmal bewegen wir uns heute in einer Art verkehrten Welt.

Für mich ist das eine ewige Gratwanderung. Gerade jetzt, wo die Entscheidung für einen Umzug gefallen ist, geht es darum, ihre Wünsche zu respektieren und so gut es geht umzusetzen. Gleichzeitig werde ich aber auch Entscheidungen für sie treffen müssen, zu denen sie gar nicht mehr in der Lage sind. Ein schmaler Grat zwischen Interessenwahrung und Bevormundung, und das auf allen Ebenen des Alltags. Ich investiere diese Zeit und Energie sehr gern, denn schließlich gebe ich ihnen damit etwas zurück, was sie jahrelang ganz selbstverständlich für mich gemacht haben. Allerdings habe ich auch einen Heidenrespekt vor dieser neuen Aufgabe.

Mit der Vorsorgevollmacht, die wir zum Glück im vergangenen Jahr notariell anfertigen ließen, geht einher, dass ich ihre gesetzliche Betreuung übernehme, sobald sie nicht mehr geschäftsfähig sind. Das ist dann tatsächlich mit dem Sorgerecht für ein Kind vergleichbar. Ich hoffe, dieser Zeitpunkt liegt noch in weiter Ferne, würde aber leider keine Wetten darauf abschließen. Ich habe Respekt vor ihm.