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Lonari

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Die letzten Wochen waren schwer für uns alle. Nach Papas Tod bin ich fast zwei Wochen lang nur gerannt, um Dinge zu organisieren. Gerannt, um die Bestattung auf die Beine zu stellen, für die ich gefühlte 3 Millionen Entscheidungen treffen musste. Gerannt, um fristgerecht alle Formalitäten zu erledigen. Gerannt, um viele Dinge aufzufangen und zu retten, auf die einen niemand vorbereitet, in die man von jetzt auf gleich hineingezogen wird, ohne Atempause, ohne Zeit zum Nachdenken geschweige denn zum Trauern. Nun steht ein schwarzweißes Porträtfoto auf meiner Anrichte, umrahmt von Kerzen und liebevollen Kondolenzbriefen, und der HSV hat sich gestern vor dem Abstieg gerettet, und es ist das erste Mal, dass ich nach einem solchen Erlebnis nicht Papa anrufen und mich gemeinsam mit ihm darüber freuen kann.

Fußball gucken geht gerade gar nicht.

Das haben wir immer gemeinsam gemacht, über die Entfernung hinweg. Es hat uns immer verbunden Jetzt nicht mehr. Es fällt mir schwer, ohne Papa Spaß daran zu haben. Aber auch das wird wiederkommen, das weiß ich. Ich bin mir sicher, er sitzt gemeinsam mit Hermann Rieger irgendwo da oben, trinkt ein Bier und isst Marzipanschokolade, während er sich über unsere Rettung freut. Mama hingegen freut sich, dass sie das teure Sky-Abonnement endlich los ist. Da kennt sie nichts.

Apropos Mama.

Mama hat den Umbruch noch lange nicht begriffen. Er ist weg, sie ist allein, das Haus ist groß und leer. Das ist ihre Situation momentan. Ich fahre so oft hin, wie ich kann, aber ich kann eben auch nicht an 7 Tagen die Woche. Sie wird zu mir ziehen. Ich habe von ihr eine Vollmacht und den Auftrag erhalten, einen Mietvertrag für sie zu unterzeichnen. Es wird kommen, aber es dauert eben auch. Zuerst müssen wir entscheiden: Geht es direkt ins betreute Wohnen, oder soll es doch noch mal eine eigene Wohnung werden, in die man schließlich auch ambulante Pflegedienste bestellen kann. In unserem Gebäudekomplex sind immer noch schöne, moderne und nahezu barrierefreie Wohnungen zu haben. Eine davon haben wir reserviert, 80 Quadratmeter, zwei Zimmer, eine riesige Südwest-Terrasse, die sie eigentlich gar nicht braucht. Alles viel zu groß, aber eben auch stufenlos, was in unserer Gegend eine Seltenheit ist. Die Entscheidung zwischen betreutem Wohnen und „normaler“ Wohnung fällt aus mehreren Gründen nicht leicht.

Vorteile betreutes Wohnen

Gesellschaft: Die plötzliche Einsamkeit ist eine harte Nuss für Mama. Plötzlich ist das Haus so leer, es gibt keinen Ansprechpartner mehr. In Service-Wohnanlagen gibt es eine Menge Unterhaltung und viele Bewohner, die in derselben Situation sind.

Pflege vor Ort: Die meisten Wohnanlagen bieten bestimmte Zusatzservices an, die man je nach Bedarf dazu buchen kann. Das geht alles sehr leicht und unbürokratisch vonstatten. Hinzu kommt, dass meist vor Ort bereits eine pflegegerechte Möblierung vorzufinden ist, die nicht erst noch angeschafft werden muss.

Nachteile betreutes Wohnen

Begrenztes Raumangebot: Betreutes Wohnen ist zwar an sich eine tolle Sache, aber die Räumlichkeiten sind traditionell beengt. Mama hat Ansprüche. Ich sage nur: Gäste-WC.  Außerdem sollte die Wohnung mindestens zwei Zimmer haben und über einen schönen Balkon oder eine ansprechende Terrasse verfügen. Mehr als anderthalb Zimmer sind in Servicewohnanlagen aber nirgends zu haben. Von einem Balkon oder einem getrennten Gäste-WC ganz zu schweigen.

Lange Wartelisten: Betreutes Wohnen ist beliebt. Wir brauchen eine schnelle Lösung für Mama, aber die Wartelisten sind lang.

Teuer: Betreutes Wohnen ist natürlich auch nicht billig. Mama hat noch keinen Pflegegrad, und es wird ein wenig dauern, bis sie ihn bekommt. Je höher der Pflegegrad, desto mehr davon übernimmt zwar die Pflegekasse, aber desto höher ist auch der Eigenanteil.

Fazit: Eigene Wohnung?

Im Moment spricht viel für ihre eigene Wohnung hier in unserer unmittelbaren Nähe. Wenn alles gut läuft, unterzeichnen wir kommende Woche den Mietvertrag, und dann kann es auch schon losgehen mit den Umzugsvorbereitungen.

Tja, und nun sitze ich hier, im elterlichen Wohnzimmer, und habe eine Tafel Marzipanschokolade auf dem Schoß. Es war Papas Lieblingsschokolade, und die letzte Tafel, die ich online für ihn bestellt habe. Ich werde sie jetzt gleich öffnen und aufessen, und das macht mich gerade sehr glücklich. Weil ich weiß, dass er sie mir angeboten hätte. Mit einem Glas Wasser. Er hat immer allen Gästen ein Glas Wasser oder etwas anderes zu trinken angeboten.

Leider sitzt er mir nicht mehr gegenüber, auf seinem Lieblingssofaplatz.

Und dort wird er auch nie wieder sitzen. Papa ist vergangene Woche von uns gegangen. Es ging leider alles sehr schnell. Wie ich bereits schrieb, musste ich ihn letzten Mittwoch von Hamburg aus mit Verdacht auf Dehydrierung in Düsseldorf ins Krankenhaus einliefern lassen. Vor der Einlieferung plagte ihn bereits seit mehreren Tagen ein Magendarm-Virus, mit welchem eine deutliche Schwächung und ein großer Wasserverlust einhergingen. Ich vermute zudem, dass seine Parkinsonmedikamente in dieser Zeit nicht mehr anschlugen, sofern er sie denn überhaupt noch genommen hatte. Dann ist er auch noch mehrfach böse gestürzt, was allerdings noch halbwegs glimpflich ausging, von einigen heftigen Hämatomen an der Schulter und in der Seite einmal abgesehen. In diesem schlechten Allgemeinzustand wurde er eingeliefert und sofort an den Tropf gehängt. Die ersten beiden Tage ging es noch aufwärts. Seine Werte verbesserten sich, er entwickelte wieder mehr Appetit und war der Lieblingspatient der Oberschwester.

Eines war da allerdings schon klar: Nach Hause zurück würde er nicht mehr können.

Darin waren die Sozialmanagerin des Krankenhauses und ich uns sofort einig, nachdem sie Papa besucht hatte. Ihr Spezialgebiet: Pflegeüberleitung. Ein sehr wichtiger Job und eine großartige Unterstützung für Angehörige wie mich. Meine nächste Spende geht definitiv an diese Einrichtung. Ich kann gar nicht sagen, wie hilfreich sie war. Sie sprach mit Papa, der zu diesem Zeitpunkt geistig noch anwesend und zu Antworten in der Lage war. Und siehe da: Er willigte endlich, endlich, endlich ein, sich vom Medizinischen Dienst in einen Pflegegrad einstufen zu lassen. Er hatte nun eingesehen, pflegebedürftig zu sein und wollte Mama nicht mehr zumuten, sich 24 Stunden am Tag um ihn kümmern zu müssen. Ich war erstaunt über so viel Einsicht und erleichtert zugleich. Die Sozialmanagerin krempelte die Ärmel hoch, um einen Kurzzeitpflegeplatz für meinen Vater für die Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt zu organisieren, erst mal hier vor Ort in Düsseldorf. Mein Job war es, gleichzeitig in Hamburg einen Langzeitpflegeplatz zu finden, für die Zeit nach der Kurzzeitpflege. Wir begannen zu telefonieren und alles Notwendige in die Wege zu leiten.

Doch dazu kam es dann leider nicht mehr.

Sein Zustand verschlechterte sich am fünften Tag des Krankenhausaufenthaltes plötzlich. Zufällig waren wir exakt in diesem Moment vor Ort. Wir kamen in sein Zimmer, da wollte er sich gerade aufsetzen, weil er über  „unwahrscheinliche Schmerzen“ in der Seite klagte, auf die er vor ein paar Tagen gefallen war. Nun wollte er sich durch einen Positionswechsel Erleichterung verschaffen und eigentlich am liebsten ganz aus dem Bett aussteigen, wozu er allerdings gar nicht imstande war. Gleichzeitig schimpfte er. Die Pflegerinnen hatten kurz zuvor versucht, ihn zu mobilisieren. Es war ihm ja gut gegangen bis dato, also lautete ihr Plan, ihn so schnell wie möglich wieder an Bewegung zu gewöhnen. Allem Anschein nach wollten sie mit ihm den Sitz auf der Bettkante üben. Er schimpfte darüber, weil es ihm überhaupt nicht recht gewesen ist. Er hätte richtig schuften müssen. Und hinzu kam, dass die Übungen offenbar Schmerzen ausgelöst hatten. Die nun immer schlimmer wurden. Er bekam zuerst ein orales Schmerzmittel, was aber kaum anschlug. Die nachfolgende Schmerzspritze hingegen tat es. Er beruhigte sich zusehends, fiel aber in eine Art Delirium.

Das Leben zog in Bildern an ihm vorbei.

Er war nun nicht mehr ansprechbar. Zwar nahm er uns zwischendurch immer mal wieder wahr, allerdings nur sehr kurz. Er fragte namentlich nach seiner Enkelin und wollte, dass ich ihn umarme und ihm einen Kuss gebe. Ich kam seinem Wunsch nach und tupfte ihm immer wieder Schweiß von der Stirn. Er erzählte mit offenen Augen von Erlebnissen aus seinem Leben, als würde er sie gerade noch mal durchleben. Da wusste ich, dass er gehen würde. Es war sichtbar, es war ahnbar. Die kommende Nacht und den kommenden Tag sollte er noch erleben, aber in der zweiten Nacht riss mich ein Anruf aus dem Tiefschlaf, den ich vermutlich nie wieder vergessen werde. Die Stürze, die Dehydrierung, der Magendarm-Virus und die Parkinsonerkrankung hatten ihn auf seinen letzten Weg geführt.

Tschüß, Papa.

Wie schade, dass wir keine Zeit mehr zusammen haben. Wie schade, dass ich ihn in Hamburg nicht mehr betüdeln kann. Schade, dass wir nie wieder zusammen Fußball gucken werden. Schade. Es gibt so viel, wofür ich ihm dankbar bin, und all das habe ich in seinen Abschiedsbrief geschrieben. Dann bin ich in den vergangenen Tagen wie ein Duracell-Häschen durch den Ort gerannt, um alles zu organisieren.

Nach vier Tagen erst konnte ich mich zum ersten Mal zurück lehnen.

Es ist verrückt, woran Angehörige sofort denken müssen und welche Formalitäten danach verlangen, sofort erledigt zu werden, um keine Nachteile zu erfahren. Und das mitten in der Trauer. Beispielsweise bin ich in der einen Nacht um 1:30 Uhr aus dem Bett gesprungen, weil mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel, dass die Lebensversicherung noch nicht Bescheid weiß. Und die wollen spätestens 48 Stunden später eine Nachricht bekommen, sonst ziehen die sich aus der Affäre. Ich habe es exakt nach 47 Stunden und 59 Minuten geschafft, sie per E-Mail zu benachrichtigen. Aber das ist noch mal eine andere Geschichte. Ich hantiere hier mit To-Do-Listen, Verpflichtungen und Entscheidungen, die ich gar nicht treffen möchte, aber treffen muss. Ich suche Blumen für ihn aus, seinen Sarg, seinen Grabschmuck, seine Totenkleidung, ich hole Unterschriften ein, beantrage Gelder für Mama, gebe Trauerbriefe in Auftrag, deren Texte ich mitten in der Nacht schreibe, um dann panikerfüllt erst im Nachhinein zu checken, ob ich auch bloß keinen Rechtschreibfehler eingebaut habe (habe ich nicht, Redakteursroutine sei Dank). Und ich führe Gespräche darüber, welche Inhalte wir uns in seiner Trauerrede wünschen. Als Musik gibt es Bachs Air und James Lasts Biscaya, das hätte ihm gefallen.

Kommenden Freitag findet die Beerdigung statt.

Bis dahin funktioniere ich, habe aber zwischendurch sehr traurige Momente. Mit seiner Lieblingsstrickjacke in der Hand saß ich neulich zusammengesunken auf seinem Lieblingssofaplatz, da war ich noch nicht so weit wie jetzt. Jetzt kann ich mir die Erlebnisse von der Seele schreiben, und jetzt kann ich mit einem Lächeln hier sitzen und seine letzte Tafel futtern. Marzipan. Auf Dich, Papa.

 

Vor zwei Wochen wähnte ich uns am vorläufigen Ende des Weges und schrieb: „Ich kann nur noch abwarten und rein gar nichts mehr tun. Und dann, wenn es passiert ist (was auch immer), muss ich springen und zusehen, dass ich rette, was noch zu retten ist. Darauf bereite ich mich vor, so gut es geht. Denn es wird was passieren, es ist spürbar, es ist absehbar. Im Alltag können sie fast nichts mehr alleine, jede Treppenstufe quält sie, jeder Arzttermin ist ein riesiges Problem. Ich weiß nicht, wie sie in Zukunft ohne mich klarkommen wollen, aber irgendwie geht es ja von Woche zu Woche.“

Irgendwie jetzt nicht mehr.

Was soll ich sagen. Da sind wir nun. Jetzt geht es eben nicht mehr. Der Moment ist da, und er kam mit Wucht: Papa ist an zwei Tagen mehrfach im Raum gestürzt, hat sich heftige Blessuren zugezogen, ist aus dem Bett gefallen, allem Anschein nach schleichend dehydriert, woraufhin die Parkinson-Medikamente nicht mehr anschlugen (wie ich vermute), was wiederum gepaart mit der Dehydrierung einen Zustand geistiger Verwirrung auslöste. Man sitzt nicht aus heiterem Himmel auf seinem Bett, beschwert sich über die vielen, anwesenden Menschen im Schlafzimmer und möchte nach Hause gebracht werden.

Umbruch in Sicht.

Ich musste ihn von Hamburg aus auf Hinweise der Nachbarin meiner Eltern hin gegen den leichten Widerstand meiner Mutter in Düsseldorf ins Krankenhaus verfrachten lassen, was aus der Ferne gar  nicht mal so einfach ist. Seitdem organisiere ich und telefoniere und koordiniere und freue mich sehr darüber, dass es im Krankenhaus eine Sozialstation mit sehr erfahrenen Managerinnen gibt, für die meine Situation (Eltern haben jahrelang nicht auf mich gehört, und jetzt haben wir den Salat) absolut alltäglich zu sein scheint. Wenn alles gut läuft, dann kommt nächste Woche der Medizinische Dienst, gibt ihm (endlich!) einen Pflegegrad, dem mein Vater hoffentlich auch zustimmt, was ich momentan noch nicht zu prophezeien wage. Zumal ich hier aus der Ferne nicht einschätzen kann, ob er zur Zustimmung oder Ablehnung überhaupt noch in der Lage ist. Falls nicht, hätten wir noch einen Termin beim Betreuungsgericht vor uns, und Gott sei Dank sind die juristischen Formalitäten in dieser Hinsicht bereits durch die Vorsorgevollmacht geregelt. Das lässt mich in all dem Chaos-Sog-Strudel gerade ein wenig aufatmen.

Wie geht es weiter?

Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Vermutlich müssen wir einen Kurzzeitpflege-Platz für ihn in Düsseldorf organisieren. Das kann aber nur eine Übergangslösung sein. Ich werde einen weiteren Versuch starten, sie in meine Nähe zu holen und hoffe, dass ihnen die Notwendigkeit nun klar ist. Meine Mutter ist mit der Situation völlig überfordert, denn sie hat sie nicht kommen sehen. Das mag nun unglaublich klingen, aber so ist es. Sie hat nicht nur all die Jahre all meine Warnungen in den Wind geschlagen, sondern offenbar auch dermaßen erfolgreich verdrängt, dass sie sich nun an nichts erinnern kann. Es ist ihr schleierhaft, weshalb ich überhaupt nicht überrascht bin. Und ich kann nur eins: Tief durchatmen, keine Vorwürfe mehr machen und Verständnis haben. Ich muss den „Ich hab es Euch doch gleich gesagt“-Impuls, der mir dauernd auf der Zunge liegt, ständig unterdrücken in den nächsten Tagen. Denn ich habe es mit einer herzkranken Frau zu tun, die nur noch über 20 Prozent Sehkraft verfügt und der ganzen Lage sehr hilflos gegenüber steht.

With a little help from my friends.

So heftig das alles auch ist, ich bin nicht allein. Ich habe die besten Freunde der Welt in Düsseldorf. Die mich trotz neugeborenem Baby und zwei Jungs und genügend eigenen Baustellen zum hunderttausendsten Mal beherbergen, zuhören, aufmuntern, helfen. Ich habe einen Freund, der mich immer die 500 Kilometer da runter fährt (und wieder hoch), damit ich das nicht alleine machen muss. In Düsseldorf gibt es noch Verwandte, die meine Situation genau kennen, die genau wissen, wie viel ich in den letzten Jahren versucht habe, die zuhören, Beistand leisten und im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen. Ich habe hier in Hamburg eine Oma für meine achtjährige Tochter, die immer einspringt und aufpasst und bekocht und an meiner Stelle bemuttert, während ich sie vermisse. Es gibt hier den Vater meines Kindes, der nie meckert, weil sich alle Absprachen in Sachen Kinderbetreuung von einem Moment auf den anderen ändern und der sich noch gut an all die Jahre erinnert, in denen er mich nach elterlichen Telefonaten, die nicht so lustig waren wie die Bestelldialoge, aufmuntern musste. Ich habe einen Chef, der mich notfalls von Düsseldorf aus arbeiten lässt, und ich habe Kollegen, die aufmuntern und Verständnis zeigen. Ohne all diese Menschen hätte ich schon lange den Kopf in den Sand gesteckt, aber so halte ich ihn aufrecht. Und fahre ich jetzt nach Düsseldorf, um die nächsten Schritte in Angriff zu nehmen und versuche, immer nur von Etappenziel zu Etappenziel zu denken.

Weiter geht’s.

 

Nein, wir wollen nicht umziehen.

Nein, wir wollen nicht aus dem Haus raus.

Nein, ich möchte keine zweite Augen-OP.

Nein, nein, nein, nein, nein. Ich esse meine Suppe nicht.

Tja. Was soll ich sagen, wir sind in der absoluten Sackgasse gelandet, und das auf allen denkbaren Ebenen. Mama hat sich zwar mit einem Auge tapfer dem grauen Star gestellt, sich aber direkt danach wieder in die Nörgelecke verzogen, weil sich mit der OP wohl überhaupt nichts gebessert hat. Rechts. Wo sie vorher schon 0 Prozent Sehkraft hatte. Nun weigert sie sich standhaft, am linken 20-Prozent-Auge rumdoktern zu lassen, was ich irgendwie nachvollziehen kann. In puncto Sehkraft würde ich mich vermutlich auch an jedem verbleibenden Prozentpunkt festklammern und keinen mehr da ranlassen.

Trotzdem schade.

Sie war so voller Zuversicht und Pläne, und nun ist das alles wieder für die Katz. Kein Umzug, keine Veränderung, kein gar nichts. Papa kommt das sehr entgegen, der will ja eh nix. Nichts im Sinne von gar nichts. Keine Geburtstage mehr feiern, kein Weihnachten mehr (es sind ja eh schon alle tot, mit denen das alles Spaß gemacht hätte – bis auf ich oder das Enkelkind, aber wir zählen da leider nicht), keine fremden Leute im Haus, kein Hörgerät, keinen Rollator, keinen Hausnotrufknopf, keine Freundschaften mehr, keine Freude, keine Abwechslung,  kein gar nichts. Wenn man sonst nichts mehr vom Leben will, dann nur noch eins: seine Ruhe. Und Mama, sie träumt nur davon, dass es anders sein könnte, aber den Mut und die Kraft, es anzugehen, hat sie auch nicht.

Ich bin mit meinem Latein am Ende.

Ich habe Zukunftsvisionen ausgemalt, gut zugeredet, Mut gemacht, genörgelt, beschworen, geschimpft, geweint, gebettelt, gemotzt, gebetet, argumentiert, gehofft, gebangt, geschrieen, überzeugt, beredet, überredet, resigniert. Ich war immer überzeugt davon, bei mir würde es ihnen so viel besser gehen. Und das sicher nicht aus egoistischen Gründen. Mein Alltag hätte sich durch das Pflegen meiner Eltern hier vor Ort schließlich auch rapide verändert. Jetzt werden sie für immer weit weg sein, und ich weiß nicht, wie ich ihnen aus der Ferne bei all dem wirklich helfen soll.

Ich habe ein ewiges, emotionales, sich inzwischen schon Jahre hinziehendes Auf und Ab aus erleichterndem „Ja, ist ja gut, wir ziehen ja um.“ und niederschmetterndem „Nein, doch nicht, lass uns endlich in Ruhe.“ hinter mir. Jetzt kann ich nicht mehr. Die ganze Sache hat schon lange begonnen, sich auf meine Gesundheit auszuwirken, und nun muss ich mal eine Grenze ziehen. Ich habe ein Kind, und das braucht eine fitte Mutter, kein Wrack.

Schluss.

Der Punkt ist gekommen. Jetzt ist er da. Ich habe begriffen, dass ich keinen Einfluss auf sie habe und musste einsehen, dass ich auch nie welchen hatte.  Ich kann nur noch abwarten und rein gar nichts mehr tun. Und dann, wenn es passiert ist (was auch immer), muss ich springen und zusehen, dass ich rette, was noch zu retten ist.  Darauf bereite ich mich vor, so gut es geht. Denn es wird was passieren, es ist spürbar, es ist absehbar. Im Alltag können sie fast nichts mehr alleine, jede Treppenstufe quält sie, jeder Arzttermin ist ein riesiges Problem. Ich weiß nicht, wie sie in Zukunft ohne mich klarkommen wollen, aber irgendwie geht es ja von Woche zu Woche. Sie wollen es so. Sie wollen meine Hilfe nicht, weder hier in Hamburg noch in Düsseldorf vor Ort.

Die Mittwochsdialoge sind das einzige, das uns noch zum Telefonieren bringt.

Kurz anrufen, ihre Stimmen hören, aha, es ist also noch alles irgendwie okay, wie geht es Euch?, was wollt Ihr bestellen?, Bestellung aufnehmen, Bestellung absenden, auf Wiedersehen, ich werde abgewürgt. Bloß nicht zu viel reden, sie haben Angst, ich könnte wieder mit dem Thema Umzug anfangen oder nach dem Stand ihrer Medikamentenversorgung fragen und ob sie sie überhaupt noch nehmen. Bitte keine Einmischung, es geht Dich nichts an. Nach mir wird sich nicht mehr groß erkundigt, ich bin nur noch zur Lebensmittelversorgung da.

Ich kann nur noch warten. Und hoffen, dass es noch irgendwie glimpflich ausgeht.

Große Aufregung im Hause Mission MamaPapa – mein kleines Blog hier ist mit seinen 70 Facebook-Fans für einen Preis nominiert, und zwar für den Goldenen Blogger 2017, der morgen im Rahmen einer kleinen Feier im Telefónica Basecamp in Berlin verliehen wird.

Ich trete da in der Kategorie „Mama/Papa/Eltern“ gegen zwei ziemlich großartige Blogs an: Christine Finke von mama-arbeitet.de, bei der ich schon länger still mitlese. Und wochenendrebell.de, den ich durch die Nominierung erst kennen gelernt habe. Starke Themen, schöne Texte. Beide Blogs haben ein Vielfaches meiner Reichweite, und schon allein deshalb gucke ich ganz schön ehrfürchtig auf die Konkurrenz und freue mich umso mehr wie ein kleiner Schneekönig: Was für eine Ehre, mit den beiden zusammen nominiert zu sein. Ich rechne mir da nur wenig Chancen aus, aber ich freue mich wie blöd auf einen schönen Abend und auf eine spannende Erfahrung in Berlin.

P.S. Ein Teil der Kategorien wird per Online-Voting vergeben. Ich weiß noch nicht, ob meine Kategorie darunter fällt, und das wird auch erst am Abend selbst bekannt gegeben. Falls das so sein sollte: Das Voting geschieht über den Twitter-Account @goldeneblogger. Falls Ihr für mich abstimmen wollt, dann folgt dem Account und schaut dort mal morgen, am 30.01.2017, ab 19 Uhr dort vorbei.

Nachdem sich mein Vater im März vergangenen Jahres endlich dazu durchgerungen hatte, dem Umzug zuzustimmen, um es sich dann im November anders zu überlegen, sich dann im Dezember aber noch mal Bedenkzeit erbat, warte ich auf das Ende eben dieser. Wenn wir mittwochs die Bestellung erledigen, frage ich meist noch mal ganz dezent nach, ob denn die Entscheidungsfindung nun in Bälde abgeschlossen sei. Nicht, dass ich mir noch große Hoffnungen auf eine konkrete Ansage machen würde, aber manchmal überraschen mich die Antworten dann doch. So wie beim letzten Mal. Da kam sie auch so plötzlich, die Antwort. Zwischen Milchtütenproblematik und Apfelsaftbestandsdiskussion. Mit anderen Worten: Ich war darauf in dieser Sekunde nicht vorbereitet. Es lief ungefähr folgendermaßen ab.

Mama: „Wir brauchen Orangensaft. Insgesamt sechs Mal.“

Ich: „Alles klar.“

Mama: „Und diesmal keine Milch. Um Gottes Willen, keine Milch! Davon ist noch massenhaft da.“

Mir ist zwar schleierhaft, was sie mit „massenhaft“ meint, denn meinen Berechnungen zufolge dürfte es sich allerhöchstens noch um 1 einsame Tüte handeln, aber gut. Ich bin inzwischen weit davon entfernt, die Mengenplanung meiner Mutter infrage zu stellen. Weshalb sollte sie auch innerhalb einer Woche nicht sechs Flaschen Orangensaft, dafür aber nur eine Tüte Milch verbrauchen. Wer bin ich, das zu kritisieren?

Ich: „Okay. Keine Milch. Keine Sorge, ich bestelle keine Milch.“

Papa (zählt derweil im Hintergrund wie immer den Getränkebestand durch): „Apfelsaft ist alle.“

Mama: „Nein, keinen Apfelsaft. Ich habe schon Orangensaft bestellt.“

Ich (kann nun doch nicht umhin, einen vorsichtigen Gegenvorschlag zu machen, begebe mich aber mal wieder auf ganz dünnes Eis): „Du könntest es ja anders aufteilen. Statt sechs Flaschen O-Saft vielleicht nur 3, dafür aber auch 3 Flaschen Apfelsaft.“

Mama (hörbar erzürnt): „Nein.“

Ende der Durchsage.

Mama: „Ich wollte zwischendurch mal fragen, wie geht es eigentlich L?“(meiner Tochter, Anm. d. Red.)

Papa (ungeduldig): „Nein, jetzt machen wir erst mal die Bestellung fertig!“

Läuft ja mal wieder wie am Schnürchen heute.

Mama: „Ich werde mich doch wohl noch nach meinem Enkelkind erkundigen dürfen, oder seit wann ist das verboten?!?“

Papa: „Ja? Na dann könnte ich ja auch mittendrin erzählen, dass wir uns eine neue Variante in Sachen Umzug überlegt haben!“

Ich (aufhorchend): „Ach ja? Welche denn?“

Papa (kapitulierend): „Wir werden uns eine kleine Wohnung in Düsseldorf mieten und eine Ferienwohnung in Hamburg kaufen. So können wir einige Wochen im Jahr an beiden Orten verbringen. Die perfekte Lösung.“

Stille. Denn ich brauche so 5-10 Sekunden, um die Informationen zu verarbeiten. Mir kommt die Lösung nämlich nicht ganz so perfekt vor, wie sie mir angepriesen wird. Mir schießen stattdessen so Tatsachen durch den Kopf wie die Immobilität meiner Eltern oder beispielsweise die Frage, ob das Modell „ein Wohnsitz in Düsseldorf und einer in Hamburg“ finanziell gesehen im Verhältnis zur Rente meiner Eltern nicht eine Spur zu mondän daherkommt. Aber ich will nicht direkt den Spielverderber geben, wo ich schließlich froh sein kann, dass sie offenbar endlich damit angefangen haben, miteinander darüber zu sprechen (und nicht bloß mit mir, am Telefon, weil ich regelmäßig damit herumnerve).

Ich: „Äh. Hm. Ja. Und wie kommt Ihr dann immer von Hamburg nach Düsseldorf und wieder zurück?“

Papa (verständnislos): „Wieso? Du fährst uns, das ist doch wohl klar!“

Ich: „Ach so?“

Papa: „Ja, etwa nicht?“

Ich: „Öhm. Wie oft denn so?“

Papa: „Na, alle paar Wochen höchstens.“

Ich: „…“

Papa: „Was hast du denn nun daran wieder auszusetzen?!“

Ja, echt mal, dem undankbaren Kind kann man es aber auch nie recht machen!

Mal unter uns gesagt: Ich halte das nicht für praktikabel. Und zwar nicht deshalb, weil ich sie nicht fahren würde. Inzwischen würde ich sie auch freiwillig zum Mond und wieder zurück fliegen, wenn das bedeutete, dass ich sie einige Wochen im Jahr in meiner Nähe hätte und mich kümmern könnte. Das Problem, das ich darin sehe: Sie sind zu solchen Fahrten vermutlich gar nicht mehr in der Lage. Viereinhalb Stunden pro Tour – das darf man mit 80 auch nicht unterschätzen. Aber, ich habe ja nunmal vor, sie in allem zu unterstützen, ganz egal, wie ihre Entscheidung ausfällt. Und wenn es das ist, was sie möchten – so sei es.

Ich: „Gar nichts, Papa. Ich bin voll bei Euch.“

Wo auch immer.

Abseits von den vielen, oftmals amüsanten Supermarkt-Telefonaten, die ich mit meinen Eltern so führe, gab es rund um die Frage, wie es mit ihnen weiter gehen soll,  in den letzten Wochen und Monaten viele ernste Momente, in denen wir gemeinsam wichtige Entscheidungen treffen mussten.

Seit zirka anderthalb Jahren organisiere ich den Haushalt meiner Eltern aus der Ferne. Und zwar ziemlich genau seit meine Mutter mit einer Herzinsuffizienz im Krankenhaus gelandet war, ohne mir ein Sterbenswörtchen davon zu verraten.

Damals war ich erst mal sprachlos, und dann bekam ich auch noch die vier verbalen Backpfeifen verpasst.

Ich musste mir plötzlich über alle möglichen Dinge Gedanken machen, über rechtliche Schritte wie die Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und Bankvollmachten, aber auch ganz grundsätzlich über die Frage, wie lange es noch so weitergehen sollte / konnte wie bisher.

Wie lange würden meine Eltern noch allein zu Hause zurecht kommen?

Kamen sie es überhaupt noch?

Und wer hatte eigentlich das Recht, darüber zu urteilen und zu entscheiden?

Von Beginn an begleitete mich ein Mythos, nämlich der vom Notarzt, der, einmal gerufen, jederzeit dafür sorgen könne, dass meine Eltern im Pflegeheim landen, nachdem er ihre häusliche Umgebung als nicht mehr tragbar eingestuft hätte. Keine schöne Aussicht, vor allem, wenn man Eltern hat, die einem Notfälle gern mal verschweigen. Ich möchte das nächste Mal nur ungern nach zwei Wochen von den Nachbarn erfahren, dass einer von beiden seit 14 Tagen im Heim lebt.

Ich hatte damals ein sehr hilfreiches Gespräch mit der Leiterin eines ortsansässigen Pflegeheims. Für mich stand zwar direkt außer Frage, meine Eltern ins Pflegeheim zu geben, aber ich suchte jemanden, der sich mit dem Thema „Selbstbestimmung im Alter“ auskannte und mir den ein oder anderen guten Ratschlag geben konnte. Denn: Wenn auch das Pflegeheim für uns keine Lösung darstellte, so war doch relativ schnell klar, dass meine Eltern bald zumindest Hilfe in den eigenen vier Wänden benötigen würden. Doch auch das war bis dato ein absolutes Tabu-Thema für sie gewesen.

Ich konnte sie ja noch nicht mal zu simplen Hilfsmitteln wie einem Rollator oder einer Abstützstange am Bett überreden.

Ein fremder Mensch in ihrem Haus geschweige denn das Beantragen einer Pflegestufe – für Mama und Papa undenkbar! Aber für mich lag auf der Hand, dass sie Hilfe brauchten, nur leider half das gute Zureden nichts.

Jedenfalls klärte mich die Heimleiterin darüber auf, dass Ärzte Patienten nicht einfach so einweisen können. Und sie gab mir einen grundsätzlichen Rat, an dem ich mich bis heute festhalte. Sie sagte mir, sie hätte schon oft erlebt, dass Angehörige den Willen der Betroffenen ignorieren und einfach Dinge entscheiden, koste es, was es wolle. Dafür ziehen sie bis vors Betreuungsgericht, um quasi eine Entmündigung zu erreichen. Hat der Betroffene den Angehörigen zuvor freiwillig über die Vorsorgevollmacht als Betreuer bestimmt (was bei meinen Eltern und mir jetzt der Fall ist), kann der Angehörige ein psychologisches Gutachten erstellen lassen, um die Geschäftsfähigkeit des Betroffenen festzustellen. Ist diese nicht mehr gegeben, setzt das Betreuungsgericht den in der Vorsorgevollmacht definierten Betreuer ein, und dieser hat dann in der Regel die Möglichkeit, den Betroffenen in ein Pflegeheim zu geben. Notfalls auch gegen den Willen. In diesem Moment wurde mir erst richtig bewusst, wie viel Verantwortung damit einher geht, dass ich für Mama und Papa laut Vorsorgevollmacht als Betreuerin definiert bin.

Die Heimleiterin riet mir, ihren Willen zu respektieren.

Denn was bringt es, wenn die pflegebedürftige Person zwar perfekt versorgt ist, man sich bis zur quasi-Entmündigung dermaßen entzweit hat, dass man kein Wort mehr miteinander spricht? Ist das ein erstrebenswerter Zustand? Ist es richtig, den Betroffenen endgültig seiner Selbstbestimmung zu berauben, nur, um ihn in guten Händen zu wissen? Sie erzählte mir, sie hätte schon viele Angehörige gesehen, die den harten Weg gegangen, letztlich aber am Zerwürfnis verzweifelt waren. Ich würde das ebenso wenig wegstecken können, klar. Gleichzeitig muss ich aber ständig abwägen: Kann ich ihren Verbleib in den eigenen vier Wänden verantworten, und wenn ja, wie lange noch? Papa schläft vor dem Herd ein und kann jederzeit eine der Treppen hinabfallen, Mama kann das Haus nicht mehr ohne stützende Hilfe verlassen, und keiner von beiden ist dazu in der Lage, Alltagsbesorgungen zu erledigen, was beispielsweise die Medikamentenversorgung erschwert.

Aber reicht das schon aus, um ihnen ungewollte Hilfe – in welcher Form auch immer – aufzuzwingen? Ist es nicht schon eine Frechheit sondergleichen von mir, überhaupt darüber nachzudenken, ob und wann ich den Weg über das Betreuungsgericht gehen soll?

Und wann ist „nicht mehr geschäftsfähig“ eigentlich „nicht mehr geschäftsfähig genug“?

Für mich steht spätestens seit dem Gespräch mit der Heimleiterin fest: Ich handele nicht gegen ihren Willen. Niemals soll es so weit kommen. Das Problem ist nur, dass ich es auch nicht für immer garantieren kann. Vielleicht gibt es in Zukunft einen Moment, in dem ich merke, dass ich es eben doch nicht mehr verantworten kann, nichts zu unternehmen. Das ist aus 500 Kilometern Entfernung aber vergleichsweise schwieriger zu beurteilen als aus der Nachbarschaft. Vielleicht wird es auch einfach der Moment sein, in dem ich vollends damit überfordert bin, ständig runterzufahren. Dahinter verbirgt sich die Frage: Wie weit muss / kann ich mich aufopfern, und ab wann habe ich das Recht, dabei auch an mich zu denken? Ich vermag nicht zu prognostizieren, wann ich an den Punkt komme, an dem ich plötzlich doch den harten Weg gehen würde, um eine dringend notwendige Verbesserung gegen ihren Willen herbeizuführen, und wenn sie nur im Engagement eines Pflegedienstes innerhalb der eigenen vier Wände besteht.

Davon mal abgesehen: Ich bin davon überzeugt, dass sie in meiner Nähe lebend noch viel länger ein selbstbestimmtes Leben in ihrem eigenen Zuhause führen könnten als in Düsseldorf. Deshalb kämpfe ich dafür, sie vom Umzug zu überzeugen.

Apropos „überzeugen“ – genau da liegt der Hase begraben: Sie müssen wollen.

Ein Oxymoron, doch genau so ist es: Wenn ihr Wille fehlt, kann ich nichts machen. Im März wollten sie, aber jetzt hat Papa es sich anders überlegt. Nun bin ich hinsichtlich organisatorischer Dinge zur Passivität verdammt, und mir bleibt bloß die Rolle der zeigefingerhebenden Nörgeltochter, deren Argumente ohnehin die meiste Zeit zum einen Ohr rein und zum anderen Ohr wieder rausgehen. Wenn ich sie nicht noch vom Umzug überzeugen kann, dann hangeln wir uns in Zukunft in Düsseldorf von körperlicher Einschränkung zu körperlicher Einschränkung, für die wir dann jeweils vor Ort Lösungen finden müssen.

Keine sehr erbauliche Aussicht. Deshalb arbeite ich aber noch lange nicht gegen ihren Willen an, gegen ihre Selbstbestimmung oder gegen ihr Recht darauf, eigene Entscheidungen für ihr Leben zu treffen. Wie auch immer das Ganze ausgeht, wo auch immer der Weg einmal endet – solange ich die Wahl habe, bleibe ich lieber die zeigefingerhebende Nörgeltochter, statt zur elendigen Verräterin zu werden, die ihnen alles mögliche aufgezwungen hat. Am Ende zählt nur, wie wir uns gegenseitig in Erinnerung behalten werden. An diesem Ziel orientiere ich mich, vor allem in den dunkleren Momenten, in denen ich damit hadere, wenig tun zu können.

Solange ich die Wahl habe.

Es ist manchmal nicht einfach. Ich will ja nicht jammern, aber doch, es muss auch mal sein – ich hab’s manchmal nicht leicht mit den beiden. Sie es auch nicht mit mir, das gebe ich zu. Die letzten Wochen waren schwierig, und deshalb habe ich auch so wenig gebloggt. Mir fehlten die Worte dafür. Manchmal war ich der Verzweiflung nahe, manchmal wütend, manchmal kurz vor der Resignation. Was ist passiert?

Sagen wir mal so, mein Vater macht dem Blog-Untertitel „Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Oder vielleicht doch?“ gerade alle Ehre in Sachen Unentschlossenheit. Er hat es sich nämlich anders überlegt. Das mit dem Umzug. Beziehungsweise, er hat es sich gar nicht überlegt. Im Prinzip weist er jede Überlegung von sich. Er will nicht mehr darüber nachdenken.

Es soll sich jetzt gefälligst nichts mehr ändern.

Und zwar „nichts“ im Sinne von „gar nichts“. Er möchte jetzt weder umziehen noch irgendwas an seiner aktuellen Wohnsituation verbessern, was allerdings dringend nötig wäre. Wenn schon kein Umzug, dann wäre ja wenigstens denkbar, dass wir das fünfstöckige, treppenlastige Haus altersgerecht umbauen lassen. Aber nein. Während meine Mutter durchaus am Umzug festhält, denn es war schon immer ihr Wunschtraum, wieder zurück in den Norden zu gehen, blockiert mein Vater ihren Wunsch durch seinen Widerwillen. Nennt man Pattsituation, glaube ich.

Leider ist meine Mutter auch nicht gerade die Entscheidungsfreudigkeit in Person, was den Umzug betrifft. Erwähnte ich letztens, dass ich keinen Makler rufen darf, solange ihre Augen nicht wieder in Ordnung sind? Ja, erwähnte ich. Hintergrund: Das Dach meines Elternhauses ist kaputt, und der Makler sollte im Hinblick darauf mal die Lage checken und beurteilen, ob man es (angesichts der aktuellen Immobilienpreissituation in Düsseldorf und sowieso) erst reparieren und dann verkaufen sollte oder umgekehrt.

Der Maklertermin war abgemachte Sache, bis Mama mit der Augendiagnose um die Ecke kam und darauf beharrte, es dürfe kein Fremder ins Haus, nicht mal in meinem Beisein, und zwar so lange nicht, bis sie des Sehens wieder vollkommen mächtig sei. Ich seufzte, ich akzeptierte, ich organisierte Termine in der Augenklinik und fand mich damit ab. Immer schön ein Mini-Schrittchen nach dem anderen.

Bis mein Vater sich am Telefon verplapperte.

Ja, es war wieder eins unserer berühmt-berüchtigten Telefonate, vor denen ich immer ein wenig Respekt habe, weil ich nie weiß, welche Überraschung mich diesmal erwartet. So auch neulich. Nachdem wir das übliche Einkaufs-Tamm-Tamm hinter uns gebracht hatten, fragte ich, wie es denn sonst so gehe.

Papa: „Ganz gut. Mir tun nur die Knie weh.“ (Tja, die bösen Treppen, was soll ich sagen?)

Ich: „Nicht schön. Brauchst Du eine Salbe aus der Apotheke? Oder sollen wir einen Arzttermin machen?“

Papa (grummelig, er hasst Ärzte): „Nein, bloß nicht, geht schon. Ist bloß dieses Nasskalte hier im Haus.“

Ich (seufzend): „Ja, weil das Dach kaputt ist. Kein Wunder.“

Papa (überrascht): „Wie, Du weißt davon?“

Ach, Papa. Langsam schlägt sich seine Krankheit leider auch auf das Gedächtnis nieder. Im Vergleich zu anderen Parkinson-Patienten, die ich kenne, ist er zwar geistig noch sehr fit, aber manchmal merkt man es doch. Bei meinem letzten Besuch in Düsseldorf hatten wir gerade erst über das kaputte Dach gesprochen. Oder anders gesagt: Ich war über die Wäschewanne gestolpert, die mitten im Schlafzimmer stand und der Regensammlung diente, und hatte höflich um Aufklärung gebeten.

Ich: „Klar weiß ich das noch, wir haben doch gerade erst darüber gesprochen. Aber Mama will ja niemanden ins Haus lassen, bevor ihre Augen nicht wieder in Ordnung sind.“

Papa: „Wieso? Der Dachdecker war doch gerade erst da?!“

Okay. In diesem Moment wurde mir klar: Mama möchte nicht, dass ich das organisiere, und zwar ganz unabhängig von ihrem eingeschränkten Sehvermögen. Ich hätte es wissen müssen. Mit anderen Worten: Halt Dich da raus, das schaffen wir schon alleine.

Leider lassen sie sich ohne meine Hilfe aber regelmäßig übervorteilen.

Ich sage nur: Der neue Fernseher für ein paar Tausender von Elektro Müller, der Luxusstaubsauger vom Vertreter, oder aber – auch eine schöne, neue Geschichte: die Anschlussfinanzierung, die ihnen angedreht wurde. Zwei Achtzigjährigen für eine lachhafte Restschuld eine Anschlussfinanzierung mit zehnjähriger Zinsbindung und nur einem Prozent Tilgung pro Jahr und natürlich sensationell niedriger Monatsrate anzubieten, finde ich kriminell. Und bei Gelegenheit werde ich auch noch mal ein Hühnchen mit dem „ach so netten Herrn XY“ (Mama) von der großen, gelben Bank rupfen. Die meine Eltern am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Statt die Restschuld abzutragen, zahlen sie in den kommenden Jahren quasi sowas wie Miete an die Bank, obwohl sie längst fertig sein könnten. Hätten sie mal ihre Tochter gefragt, die bei einem Baufinanzierer arbeitet und sich damit bestens auskennt. Aber nein! All das zeigt: Sie wollen meine Hilfe nicht. Bei den ganzen Kleinigkeiten wie Fernseher und Co. kann ich das ja noch akzeptieren. Aber bei der Frage, wie und wo sie in Zukunft leben wollen, leider nicht.

Denn ich mache mir Sorgen, große Sorgen.

Es kann jederzeit etwas passieren, und dann bin ich, die einzige Hilfe weit und breit, 500 Kilometer weit weg. Und dann kann ich zusehen, wie ich alles in den Griff bekomme: Ihre Belange und meine, schließlich habe ich auch Familie hier oben im Norden. Abgesehen davon, dass es für mich auch nicht gerade leicht ist, auf Dauer ihren ganzen Alltag aus der Ferne zu organisieren, ihre Medikamentenversorgung, ihre Lebensmitteleinkäufe, Arzttermine und so weiter und so fort. Ich habe das alles im Griff, ich mache das alles gern, und ich mache das alles nun auch schon sehr lange. Es zehrt aber auf Dauer an meinen Kräften, alleine die viele Fahrerei ist wirklich anstrengend. So kann es nicht ewig weiter gehen. Deshalb war ich sehr froh über ihre Entscheidung im letzten Frühjahr, den Umzug zu wagen. Und sehr desillusioniert, als ich merkte, dass sie es eigentlich gar nicht wollen, weil sie einfach nicht mitziehen.

Das machen meine Nerven nicht mit.

Jedenfalls nicht lange. Nach der Sache mit dem heimlich bestellten Dachdecker hatte ich genug. Es wurde noch mal Tacheles geredet. Ganz in Ruhe, ohne emotional zu werden, ganz sachlich und aufs Wesentliche fokussiert – worauf ich immer noch ein bisschen stolz bin, denn in der Regel ist mir bei diesen Gesprächen immer zum Heulen zumute, was selten zu irgendwas Gutem führt.

Ich habe ihnen also ganz ruhig erklärt, dass ich es leid bin. Sie haben im vergangenen März entschieden, umziehen zu wollen, torpedieren aber seither alle meine Organisationsversuche mit allen möglichen Mitteln. Wir haben zwar diverse Vorsorgevollmachten notariell abgeschlossen, aber so lange sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, kann ich ohne ihre Zustimmung nicht mal einen Stromvertrag kündigen.

Das ist ja an sich auch gut so. Aber sie können sich nicht für einen Umzug entscheiden, meine Hilfe zwar grundsätzlich annehmen, mir aber dann bei jedem Kinkerlitzchen Steine in den Weg legen, indem sie sich allerlei Ausreden einfallen lassen und Termine mit fadenscheiniger Begründung verschieben oder hinterrücks einen Dachdecker engagieren, obwohl wir besprochen hatten, erst mal einen Fachmann für Hausverkäufe beurteilen zu lassen, ob das überhaupt sinnvoll ist.

Also habe ich ihnen in diesem Gespräch klar gemacht, dass der Wille zum Umzug von ihnen ausgehen muss, wenn überhaupt. Sie müssen eine Entscheidung treffen und dann dahinter stehen. Ganz egal, wie sie ausfällt. Und sie können mir Bescheid sagen, wenn das der Fall ist. Vorher mache ich nichts mehr. Nichts im Sinne von „gar nichts“. Seitdem warte ich und hake bei jedem Telefonat nach. Mit bisher mauem Erfolg und dem Resultat, dass Papa sich jetzt am Telefon verdächtig oft viel tauber stellt, als er eigentlich ist. Aber ich bleibe hartnäckig.

Fun Fact am Rande: „Und, wie läuft es mit dem Block, Kind?“

Meine Eltern wissen, dass ich hier über unsere gemeinsamen – wie soll ich es ausdrücken – Erlebnisse schreibe. Mit knapp 80 haben sie zwar nur eine ganz vage Vorstellung davon, was ein Blog ist und wie man es ausspricht, aber ich konnte ihnen begreiflich machen, dass hier Fremde mitlesen und was das bedeutet. Sie sind einverstanden, haben vollstes Vertrauen, dass ich sie nicht bloßstelle (ich bemühe mich), und gleichzeitig sind sie ein bisschen stolz darauf.

Fragt mich meine Mutter neulich: „Und, wie läuft es mit Deinem Block?“

Ich: „Nunja. Am Rand steht: ‚Zwei Achtzigjährige ziehen um.‘ Wenn Ihr so weiter macht, werde ich es wohl bald schließen müssen.“

Mama: „Kommt gar nicht infrage. Dann ziehen wir eben um.“

Die Hoffnung lebt.

Hier pfeift gerade gar nichts von Dächern. In den letzten vier Wochen war es hier still, weil nicht viel passiert ist. Der Umzug stagniert, leider, weil meine Mutter der Ansicht ist, es dürfe nicht weiter gehen, so lange sie ihre Augen-OP noch nicht hatte. Denn sie sieht ja nicht so gut. Ich kann unmöglich den Makler ins Haus lassen, wenn sie nur die Hälfte sieht. Dass ich alles sehe, ist irrelevant. Das muss ich respektieren, auch, wenn’s schwer fällt.

Immerhin sind wir beim Thema „Augen“ einen guten Schritt weiter gekommen, sie war nämlich beim Arzt, um sich anzuhören, was nun zu tun sei. Da ich leider nicht mitgehen konnte, musste ich mich im Nachhinein zum Pudelkern durchfragen.

Ich: „Find ich super, Mama, dass Du da warst.“ (Und nicht gekniffen hast, wie ich schon befürchtete, was nicht so super gewesen wäre, da Facharzttermine rar sind und der nächste vielleicht 2017 erst hätte stattfinden können)

Mama (ganz relaxed): „Jaja, das war ja nun keine große Sache.“

Ich: „Und, was hat er gesagt?“

Mama (kurz und knapp): „Muss operiert werden.“

Ich: „Und wo?“

Mama: „Uniklinik. Augenklinik.“

Ich: „Aha. Hast Du schon eine Überweisung dafür bekommen?“

Mama: „Nein.“

Ich: „Warum nicht?“

Mama: „Weil das Quartal bald zu Ende ist. Die Überweisung brauche ich fürs neue Quartal. Dann muss ich noch mal hin.“

Ich (skeptisch): „Aber Überweisungen gelten doch normalerweise quartalsübergreifend?“

Mama: „In diesem Fall nicht.“

Ich (stirnrunzelnd): „Das wäre mir neu, aber okay.“ (Ich vermute eine Zeithinauszögerungstaktik dahinter, will aber nicht ungerecht sein, denn vielleicht stimmt es ja tatsächlich)

Mama: „Ich muss auf jeden Fall deshalb noch mal zum Augenarzt zuerst, im kommenden Quartal.“

Ich: „Aber die kann er doch dann sicher auch per Post schicken. Am besten, ich rufe da mal an und frage nach, ob das wirklich nötig ist, so lange zu warten. Vielleicht hast Du da was falsch verstanden. Wie ist denn seine Telefonnummer?“

Mama (murmelt die exakte Nummer leise vor sich hin): „0211-12345678.“ Und dann lauter an mich gewandt: „Die weiß ich nicht, da muss ich jetzt erst nach oben gehen, um die zu holen.“

Ich (des Hörens mächtig, habe die gemurmelte Nummer natürlich schnell mitgeschrieben): „Ich kann die auch googeln. Wie heißt er denn?“

Mama: „Hab ich vergessen. Irgendein komplizierter, ausländischer Name.“

Ich: „Du willst also nicht, dass ich da anrufe.“

Mama: „Das hab ich doch gar nicht gesagt. Ich komme nur ad hoc nicht auf die Telefonnummer. Kein Mensch kann sich alle Telefonnummern merken.“

Sehr unglaubwürdig. Doch, liebe Mama, Du kannst das. Konntest Du schon immer. Manchmal vergisst Du nur, dass ich Dich gut genug kenne, um das zu wissen. Zumal ich diese merkwürdige Eigenschaft, Zahlen besser zu behalten als alles andere, von Dir geerbt habe.

Ich: „Na gut. Ich kenne zwar weder seinen Namen, noch seine Telefonnummer,“ (hüstel), „aber ich finde das schon heraus. So viele Augenärzte gibt’s ja nicht bei Euch in der Nähe.“

Mama: „Wie Du meinst.“

Sie hat Angst und möchte die OP hinauszögern. Deshalb will sie nicht, dass ich da anrufe, um alles zu beschleunigen. Ich verstehe sie ja, aber es hilft ja alles nichts. Sie sieht schlecht, und das ist ja kein Zustand. Wer irgendwann wieder alleine auf die Straße gehen möchte, muss sehen. Ich begleite sie ja auch und versuche, ihr die Ängste zu nehmen. Eine grauer-Star-OP dauert nur wenige Minuten und kann in der Regel ambulant durchgeführt werden. Hinterher sieht sie wieder wie ein junges Mädchen. Zuerst gilt es, den Widerstand zu durchbrechen. Auch, wenn es nur zu ihrem Besten ist, die Gängel-Rolle gefällt mir gar nicht.

P.S. Natürlich konnte ich die gemurmelte Nummer googeln und sie exakt dem Augenarzt zuordnen. Ätsch.

 

Der Weg zur Bank ist ja für meine Mutter heute nicht mehr so einfach. Deshalb bringe ich ihr normalerweise bei jedem meiner Besuche Bargeld von ihrem Konto mit. So auch letztes Mal. Leider hatte ich das Bargeld noch im Portemonnaie, als ich längst wieder Zuhause in Hamburg war – ärgerlich, aber kommt vor.  Deshalb wurde die Haushaltsgeld-Problematik in unserem letzten Supermarkt-Bestell-Telefonat zum Thema.

Ich: „Tut mir leid, Mama, ich ärgere mich total, dass ich vergessen habe, Dir in Düsseldorf das Geld zu geben.“

Mama (heute die Großzügigkeit in Person): „Schon gut. Jeder macht mal Fehler.“

Ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen, ich will ja auch nicht, dass meine Eltern bargeldmäßig auf dem Trockenen sitzen.

Mama: „Einhundert Euro hab ich noch, damit kommen wir noch hin.“

Autsch. Ich miserable Tochter.

Ich: „Ich könnte ja was mit der Post schicken.“

Mama: „Mit der Post? Nein, nein, nein. Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, dass man kein Bargeld mit der Post schickt!“

Ich: „Aber ich komme erst in vier Wochen wieder, so lange reicht das Geld doch nie und nimmer.“

Mama (zögerlich): „Na ja, Du könntest es ja vielleicht Zwanziger-weise verschicken. Dann ist es ja noch zu verschmerzen, wenn mal ein Umschlag abhanden kommt.“

Wofür wir dann mehrere Wochen bräuchten, um das Haushaltsgeld von A nach B zu transferieren. Aber, so what.

Ich (erleichtert über diese halbwegs passable Lösung): „Okay. So machen wir’s.“

Mama (wenn schon, denn schon): „Und wenn Du sowieso schon zur Post gehst, dann hol mir doch bitte auch gleich zehn Briefmarken für Standardbriefe und steck sie mit dazu.“

Ich: „Alles, was Du willst, Mama.“

Eigentlich müsste ich wissen, dass es unklug ist, sowas so leicht dahinzusagen.

Mama: „Ich brauche auch noch Briefumschläge. Nimm einfach einen großen Umschlag und steck alles da rein.“

Ich: „Okay… mach ich…“

Nächstes Telefonat. Die Sendung war nicht hundertprozentig zu Ihrer Zufriedenheit.

Mama: „Danke für die Post. Du hast Dir wirklich Mühe gegeben.“

Miserable Tochter, die Fortsetzung.

Ich: „?!? Stimmte damit irgendwas nicht?“

Mama: „Na ja, Du hast Siebzig-Cent-Briefmarken genommen.“

Ich: „Ja, weil Du meintest, Du bräuchtest Briefmarken für Standardbriefe. Und die kosten 70 Cent.“

Mama: „Nein, 45 Cent.“

Ich (also bin ich jetzt doof, oder was ist hier los?): „Nein, Mama, heutzutage müssen 70 Cent auf den Briefumschlag. 45-Cent-Briefmarken sind für Postkarten.“

Mama: „Das kann doch gar nicht sein. Briefe haben IMMER 45 Cent gekostet.“

Es folgt: Miserable Tochter, der unrühmliche Höhepunkt.

Ich: „Ja, damals, als Du noch den Weg zum Briefkasten geschafft hast,  haben die vielleicht noch 45 Cent gekostet.“

Kaum habe ich das ausgesprochen, beiße ich mir auch schon auf die Unterlippe. Das war jetzt fies.

Mama (altbekannter Brustton der Empörung): „Also SO lange ist das ja nun auch noch nicht her!!“

Doch, so lange war das her. Das weiß ich deshalb so genau, weil ich schon seit Jahren keine Post mehr von ihr bekommen habe, obwohl sie früher eine begeisterte Briefeschreiberin gewesen ist.

Ich (aus mir spricht das schlechte Gewissen): „Entschuldige bitte, war nicht so gemeint. Aber sag mal, ich dachte, der Weg zum Briefkasten sei so beschwerlich – wie willst Du das denn in Zukunft schaffen?“

Mama: „Ach, zerbrich Dir mal nicht meinen Kopf, das kriege ich schon hin.“

Ich (hellhörig): „Wem musst Du denn so dringend Briefe schicken? Kann ich das nicht von hier aus für Dich erledigen?“

…Pause…

Mama (einsilbig): „Nein, kannst Du nicht.“

Ich: „Aha. Geheimnisse?!?“

Mama (lacht gekünstelt): „Ach was. Papperlapapp.“

Jetzt kommt’s raus. Während ich quasi seit Jahren keine Post mehr von ihr bekomme (auch die früher obligatorische Geburtstagspostkarte ist zur Seltenheit geworden, aber ich bin ja auch nur die Tochter), scheint sie ausgiebige Brieffreundschaften mit dem großen Unbekannten zu pflegen. So unbekannt ist der, glaube ich, gar nicht. Es gibt da so einen ominösen, früheren Ex-Kollegen, der es ihr immer angetan hatte, aber da bohre ich lieber nicht nach und übe mich zur Abwechslung mal darin, eine weniger miserable und dafür umso diskretere Tochter zu sein.

Aber man wird ja wohl noch darüber bloggen dürfen.

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