Vor zwei Wochen wähnte ich uns am vorläufigen Ende des Weges und schrieb: „Ich kann nur noch abwarten und rein gar nichts mehr tun. Und dann, wenn es passiert ist (was auch immer), muss ich springen und zusehen, dass ich rette, was noch zu retten ist. Darauf bereite ich mich vor, so gut es geht. Denn es wird was passieren, es ist spürbar, es ist absehbar. Im Alltag können sie fast nichts mehr alleine, jede Treppenstufe quält sie, jeder Arzttermin ist ein riesiges Problem. Ich weiß nicht, wie sie in Zukunft ohne mich klarkommen wollen, aber irgendwie geht es ja von Woche zu Woche.“
Irgendwie jetzt nicht mehr.
Was soll ich sagen. Da sind wir nun. Jetzt geht es eben nicht mehr. Der Moment ist da, und er kam mit Wucht: Papa ist an zwei Tagen mehrfach im Raum gestürzt, hat sich heftige Blessuren zugezogen, ist aus dem Bett gefallen, allem Anschein nach schleichend dehydriert, woraufhin die Parkinson-Medikamente nicht mehr anschlugen (wie ich vermute), was wiederum gepaart mit der Dehydrierung einen Zustand geistiger Verwirrung auslöste. Man sitzt nicht aus heiterem Himmel auf seinem Bett, beschwert sich über die vielen, anwesenden Menschen im Schlafzimmer und möchte nach Hause gebracht werden.
Umbruch in Sicht.
Ich musste ihn von Hamburg aus auf Hinweise der Nachbarin meiner Eltern hin gegen den leichten Widerstand meiner Mutter in Düsseldorf ins Krankenhaus verfrachten lassen, was aus der Ferne gar nicht mal so einfach ist. Seitdem organisiere ich und telefoniere und koordiniere und freue mich sehr darüber, dass es im Krankenhaus eine Sozialstation mit sehr erfahrenen Managerinnen gibt, für die meine Situation (Eltern haben jahrelang nicht auf mich gehört, und jetzt haben wir den Salat) absolut alltäglich zu sein scheint. Wenn alles gut läuft, dann kommt nächste Woche der Medizinische Dienst, gibt ihm (endlich!) einen Pflegegrad, dem mein Vater hoffentlich auch zustimmt, was ich momentan noch nicht zu prophezeien wage. Zumal ich hier aus der Ferne nicht einschätzen kann, ob er zur Zustimmung oder Ablehnung überhaupt noch in der Lage ist. Falls nicht, hätten wir noch einen Termin beim Betreuungsgericht vor uns, und Gott sei Dank sind die juristischen Formalitäten in dieser Hinsicht bereits durch die Vorsorgevollmacht geregelt. Das lässt mich in all dem Chaos-Sog-Strudel gerade ein wenig aufatmen.
Wie geht es weiter?
Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Vermutlich müssen wir einen Kurzzeitpflege-Platz für ihn in Düsseldorf organisieren. Das kann aber nur eine Übergangslösung sein. Ich werde einen weiteren Versuch starten, sie in meine Nähe zu holen und hoffe, dass ihnen die Notwendigkeit nun klar ist. Meine Mutter ist mit der Situation völlig überfordert, denn sie hat sie nicht kommen sehen. Das mag nun unglaublich klingen, aber so ist es. Sie hat nicht nur all die Jahre all meine Warnungen in den Wind geschlagen, sondern offenbar auch dermaßen erfolgreich verdrängt, dass sie sich nun an nichts erinnern kann. Es ist ihr schleierhaft, weshalb ich überhaupt nicht überrascht bin. Und ich kann nur eins: Tief durchatmen, keine Vorwürfe mehr machen und Verständnis haben. Ich muss den „Ich hab es Euch doch gleich gesagt“-Impuls, der mir dauernd auf der Zunge liegt, ständig unterdrücken in den nächsten Tagen. Denn ich habe es mit einer herzkranken Frau zu tun, die nur noch über 20 Prozent Sehkraft verfügt und der ganzen Lage sehr hilflos gegenüber steht.
With a little help from my friends.
So heftig das alles auch ist, ich bin nicht allein. Ich habe die besten Freunde der Welt in Düsseldorf. Die mich trotz neugeborenem Baby und zwei Jungs und genügend eigenen Baustellen zum hunderttausendsten Mal beherbergen, zuhören, aufmuntern, helfen. Ich habe einen Freund, der mich immer die 500 Kilometer da runter fährt (und wieder hoch), damit ich das nicht alleine machen muss. In Düsseldorf gibt es noch Verwandte, die meine Situation genau kennen, die genau wissen, wie viel ich in den letzten Jahren versucht habe, die zuhören, Beistand leisten und im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen. Ich habe hier in Hamburg eine Oma für meine achtjährige Tochter, die immer einspringt und aufpasst und bekocht und an meiner Stelle bemuttert, während ich sie vermisse. Es gibt hier den Vater meines Kindes, der nie meckert, weil sich alle Absprachen in Sachen Kinderbetreuung von einem Moment auf den anderen ändern und der sich noch gut an all die Jahre erinnert, in denen er mich nach elterlichen Telefonaten, die nicht so lustig waren wie die Bestelldialoge, aufmuntern musste. Ich habe einen Chef, der mich notfalls von Düsseldorf aus arbeiten lässt, und ich habe Kollegen, die aufmuntern und Verständnis zeigen. Ohne all diese Menschen hätte ich schon lange den Kopf in den Sand gesteckt, aber so halte ich ihn aufrecht. Und fahre ich jetzt nach Düsseldorf, um die nächsten Schritte in Angriff zu nehmen und versuche, immer nur von Etappenziel zu Etappenziel zu denken.
Weiter geht’s.