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Lonari

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Seit meinem letzten Besuch in Düsseldorf Anfang August ist meine Stimmung ein wenig getrübt. Grund: Meine Eltern strapazieren meine Geduld. Meine Eltern sind nicht gerade die entscheidungsfreudigsten, pragmatischsten Typen, beide nicht. Wir kommen nicht so richtig vorwärts, was mir gar nicht behagt. Ich würde jetzt nämlich am liebsten die Ärmel hochkrempeln, Umzugsunternehmen bestellen, einen Makler anheuern, das Haus weiter entrümpeln, die neue Wohnung anmieten und den Umzug über die Bühne bringen. Aber alles, was ich darf, ist den Makler anheuern.

Besser als gar nichts, aber nicht gerade ein Quantensprung.

Denn da waren sie wieder, meine altbekannten Probleme. Mein Tempo – welches auch immer – ist nicht das Tempo, das meinen Eltern gefällt. Dem einen geht es viel zu schnell (Papa: „Also, das mit dem Umzug kann ich mir in den nächsten drei Jahren vorstellen!“), der anderen viel zu langsam (Mama: „Ich möchte lieber heute als morgen raus aus diesem Loch“ – damit meint sie vor allem ihren Stadtteil, weniger das Haus).

Diese Ambivalenz macht das ganze Vorhaben nicht gerade leichter. Grundsätzlich ist es ja so: Ohne die Unterschriften und ohne die Zustimmung meiner Eltern darf ich aktuell rein gar nichts.

Ja, wir haben letztes Jahr die Vorsorgevollmachten unter Dach und Fach gebracht. Das bringt mir im Augenblick aber noch nüscht. Denn in den Vorsorgevollmachten ist lediglich definiert, dass ich für sie entscheiden darf, sobald sie selbst nicht mehr dazu in der Lage sind. Das ist aber noch nicht der Fall. Sie sind sehr wohl noch dazu in der Lage, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und zwar jeder für sich selbst. Eigentlich ja schön für sie, aber mir macht gerade das im Moment das Leben schwer, vor allem, weil der eine was anderes will als die andere. Eigentlich müssten sie sich erst mal einigen. Das wird aber nix, weil sie das Thema untereinander erst gar nicht ansprechen. Das macht eine Einigung ungleich schwieriger. Denn selbst bei meiner Mutter, die unbedingt zurück in den Norden will, machen sich desöfteren Zweifel breit, ob sie das alles überhaupt noch schaffen kann. Und mein Vater wirft dann zum passenden Zeitpunkt ein:

Einen alten Baum verpflanzt man nicht.

Schon macht meine Mutter wieder einen halben Rückzieher, und dann bin ich wieder gefragt, beziehungsweise meine Überzeugungskraft. Ich hatte in letzter Zeit sehr viele Momente, in denen ich dachte: „NA DANN LASSEN WIR ES EBEN!!!“, aber das ist auch keine Alternative. Ich muss da durch, mit ihnen. Wir müssen da durch, zusammen. Irgendwie. Ich kann sie nicht alleine lassen, dort unten. Umgekehrt wollen sie mir nicht zur Last fallen, und generell passt es ihnen gar nicht, dass sie mich ab und zu doch um Hilfe bitten müssen, wie beispielsweise beim Einkauf. Ihre Hilfsbedürftigkeit geht allerdings inzwischen schon weit darüber hinaus.

Was meine Eltern nicht mehr können:

  • Das Haus verlassen: Am Eingang ist kein Geländer installiert, und ohne ein solches wird es leider schwierig, aber eines anzubringen. Warum bringen wir keins an? Große Empörung: „Wir gehören doch nicht zum alten Eisen!!“
  • Aus Punkt eins ergibt sich, dass alles, was außenhäusig stattfindet, zum Abenteuer wird.
    • Beispielsweise einkaufen: Sie schaffen den Weg nicht mehr, der nächste Supermarkt liegt zirka einen Kilometer Luftlinie entfernt. Warum schaffen wir keinen Rollator an? Antwort: „Wir sind doch noch keine Greise!“
    • Arzttermine machen: Meine Mutter ist der Meinung, eine Herzinsuffizienz sei ein Klacks und bedürfe keiner weiteren Beobachtung, mein Vater kann seinen Neurologen nicht ausstehen, was der Frequenz seiner Arztbesuche nicht gerade zuträglich ist, und abgesehen davon kommt er nicht mehr alleine aus dem Taxi heraus. Darüber spricht man aber selbstverständlich nicht so gerne.
    • Medikamente besorgen: Ich time meine Besuche dementsprechend.
    • Bargeld besorgen: Auch das erledige, wenn ich vor Ort bin.
    • Bankgeschäfte erledigen: Mache ich online für sie.
  • Innerhäusig läuft es aber auch nicht besser:
    • Kochen im Sinne von „Mahlzeiten planen, dementsprechend den Einkauf planen, Mahlzeiten zubereiten“: Der ganze Vorgang überfordert sie, sie machen sich seit Wochen nur noch Dosensuppen warm, Würstchen heiß oder rufen bei der Pommessbude gegenüber an. Die Essen-Auf-Rädern-Dienste fand meine Mutter allesamt kulinarisch unbefriedigend und zu teuer. Was ist auch schon so ein matschiges Rindergulasch gegen so eine richtig schöne Portion Pommer mit Mayo?
    • Kochen im Sinne von „Herd einschalten und Herd wieder ausschalten“: Mein Vater ist neulich vor den Kartoffeln eingeschlafen.
    • Den Haushalt in Schuss halten: Sie kaufen zwar noch mit Begeisterung sauteure Staubsauger, die Anwendung strengt sie aber körperlich viel zu sehr an.
    • Die Treppen im Haus bewältigen: 5 Stockwerke, jedes Zimmer liegt in einem anderen.
    • Den Rasen mähen: Das machen netterweise die Nachbarn.

… und das sind nur die Punkte, die mir jetzt spontan einfallen.

Trotzdem läuft es ja noch. Irgendwie.

Manchmal muss ich mich schon wundern, wie sie es trotz aller Widrigkeiten noch hinkriegen, sich von Woche zu Woche zu hangeln. Was auch dazu beiträgt, dass sie der Meinung sind, es liefe doch an und für sich wie am Schnürchen. Die Einsicht, dass sie mich in ihrer Nähe benötigen, ist trotz allem, was schon passiert ist, noch nicht wirklich gesackt. Was zur Folge hat, dass ich bei jedem Anruf mit unbekannter, Düsseldorfer Nummer zusammen zucke. Denn natürlich mache ich mir jeden Tag Sorgen. Aber ganz offensichtlich müssen sie erst wieder maikäfermäßig auf dem Rücken liegen, bevor sie mir zustimmen, wenn ich sage, dass wir den Umzug langsam mal ein weeeenig beschleunigen sollten. Ihr Motto dabei lautet:

Nerv uns nicht, wir wollen ja umziehen – aber doch nicht jetzt!

Im Augenblick weiß ich nicht, was noch passieren muss, damit sie ihre Einstellung ändern. Dass ich jetzt zumindest mal den Makler engagieren darf, ist einzig und allein ein Zugeständnis daran, dass sie ja vor einigen Wochen angekündigt hatten, mitkommen zu wollen. Aber irgendwas sagt mir, dass sie hoffen, er würde das Haus als unverkäuflich deklarieren.

Meine Mutter sieht nicht mehr so gut. Mit 78 ja auch nichts so Besonderes. Ich bin 37 und habe auch schon -3 Dioptrien. Will gar nicht wissen, wie schlecht ich mit 78 sehen werde. Im Gegensatz zu meiner Mutter trage ich seit Feststehen meiner Sehschwäche eine Brille. Meine Mutter ist der Meinung, eine Brille sei keine besonders ästhetische Angelegenheit, weshalb sie das Tragen einer solchen verweigert. Da sie blöderweise ohne Brille nicht mehr lesen kann, musste sie sich vor ein paar Jahren wohl oder übel irgendwann auf eine einlassen. Die setzt sie jedoch nur zum Lesen auf. Ein Jammer, denn draußen auf der Straße beispielsweise könnte sie die Brille auch ganz prima brauchen, um beispielsweise näherkommende Autos zu erkennen.

Wenn meine Mutter in ihrem beschaulichen, Düsseldorfer Vorort auf die Straße geht, müsste eigentlich stadtteilweit eine Alarmsirene für alle anderen Verkehrsteilnehmer ertönen.

Aber alles Reden bringt nichts. Sie braucht ja auch keinen Rollator, obwohl ihr die Fortbewegung ohne Hilfsmittel sehr schwer fällt.

Ich habe irgendwann eingesehen, dass nicht ich es bin, die zu irgendeiner Einsicht kommen muss, sondern sie. Und dass meine Worte uns in dieser Hinsicht kein Stück weiter bringen. Hören und fühlen, sage ich nur. Wer nicht will, der muss.

Gelegentlich fällt ihr das Thema jedoch auf die Füße. Ich bewundere sie aber auch dafür, mit wie viel Starrsinnigkeit sie selbst dann noch die Konsequenzen ihrer Passivität wegignoriert. Wie neulich am Telefon.

Ich: „Hallo Mama, ich bin’s! Wie geht’s Euch?“

Mama: „Ganz gut. Ich sehe nur nichts mehr.“

Ich (erschrocken): „Wie – Du siehst nichts mehr?“

Mama (relativierend): „Na ja, ich sehe schon noch was. Aber ich kann kaum noch lesen.“

Ich (erleichtert, aber alarmiert): „Okayyyy… das ist ja nicht so toll. Wie wäre es, wenn Du das mal vom Augenarzt untersuchen lässt.“

Mama: „Jaja. Muss wohl gelasert werden.“

Ich: „Wie lautet denn die Diagnose?“

Mama: „Die Linsen sind ein bisschen trüb.“

Ich: „Also…mit anderen Worten…grauer Star?“

Schweigen.

Ich: „Seit wann weißt Du das denn?“

Mama: „Ach, erst seit anderthalb Jahren.“

Ich: „WAS? Und das sagst Du mir erst jetzt?!“

Telefonate mit meiner Mutter. Immer wieder schön. Hat was von Wundertüte. Leider weiß man nie, ob die darin enthaltene Überraschung positiver oder negativer Natur ist.

Mama: „Ach, das bisschen. Ist ja nun auch kein Weltuntergang.“

Ich: „Ja, aber wenn du nichts mehr siehst, ich meine – das Lasern ist doch wohl keine große Sache!“

Mama: „Ich habe aber Angst.“

Ich: „Das brauchst Du nicht. Die machen sowas heutzutage sogar ambulant. Ich komme mit, halte Händchen und bringe Dich hinterher nach Hause.

Mama: „Nein, das brauchst Du nicht. Das macht Papa schon.“

Ich: „Mama, bist Du sicher, dass Papa den Heimweg vom Augenarzt noch findet?“

Mama (felsenfest): „Aber natürlich.“

Dazu muss man wissen: Sie ist allerdings auch der Meinung, er könne noch alleine den Müll rausbringen, obwohl er die Treppenstufen vor dem Haus nicht mehr bewältigt. Die Nachbarn bringen den Müll weg. Aber wen interessieren schon diese unwichtigen Details.

Ich: „Dir ist klar, dass Du nach dem Eingriff erst mal nur verschwommen siehst, und dass Dich jemand stützen und mit dem Auto nach Hause bringen sollte? Ich sehe Euch schon orientierungslos durch Düsseldorf tapern, Du halb blind und Papa hilflos.“

Mama: „Nun mach das mal nicht schlimmer, als es ist. Das schaffen wir noch sehr gut alleine.“

Ich (muss die Chance nutzen und auf den Sinn und Zweck des Umzugs anspielen): „Das würde ich Euch ja wünschen, aber ich habe da so meine Zweifel. Für mich ist das mal wieder ein sehr gutes Beispiel dafür, wie dringend erforderlich Euer Umzug in meine Nähe ist.“

Mama: „Jetzt fang nicht wieder davon an. Ich habe gerade schon genug Sorgen.“

Thema abgebügelt.

Erwähnte ich schon, dass es mit der ganzen Umzugsgeschichte ein wenig schleppend läuft? An mir liegt das nicht.

Ich werde am Tag ihres Augenarzttermins also bangend auf mein Handy gucken und hoffen, dass mich im Anschluss keine unbekannte Düsseldorfer Nummer anruft und mir irgendein Fremder mitteilt, meine Eltern seien irgendwo orientierungslos herumirrend aufgefunden worden. Oder ich fahre einfach hin und begleite sie gegen ihren Willen. Ich muss noch mit mir selbst ausknobeln, wie ich mich verhalten soll. Vielleicht werfe ich eine Münze und hoffe, dass mich die Entscheidung – wie auch immer sie ausfällt – am Ende nicht um den Schlaf bringt. So wie neulich, als meinen Eltern mal wieder die Medikamente ausgingen, ich aber just zu diesem Zeitpunkt nicht kommen konnte, weil mein Kind Geburtstag feierte.

Meine Mutter beruhigte mich, sie würde den Weg zur Apotheke mit Links alleine schaffen, um dann auf dem Weg böse zu stürzen. An den Beinschmerzen laboriert sie heute noch herum, und mein schlechtes Gewissen erinnert mich ständig daran. Manchmal machen sie es mir auch nicht leicht.

Diese Frage habe ich jetzt schon öfter gestellt bekommen, deshalb möchte ich sie an dieser Stelle kurz beantworten. Ganz einfach: Weil es meine Eltern sind. Sie sind mit fast 80 zwar im Oma-Opa-Alter und könnten vom Altersunterschied her durchaus meine Großeltern sein. Sind sie aber nunmal nicht. Zwei Gedanken dazu:

  1. Gefühl versus Realität:
    Manchmal fühlt es sich trotzdem so an, als wären sie meine Großeltern. Aber nur so lange, bis meine Mutter die typischen Mutter-Sprüche auspackt und mein Vater bei Themen, die ihm nicht passen, die Respektsperson gibt. Das unterscheidet sie ungemein von Großeltern.
  2. Der Altersunterschied:
    Zwischen uns liegen 41 bzw. 42 Jahre Altersunterschied. Im Jahre 1979 war das so ungewöhnlich, dass meine richtige Großmutter meine Mutter damals für verrückt erklärte, als sie offenbarte, mit 41 schwanger zu sein. Heute ist es normal, mit Ende 30 oder Anfang 40 noch Mutter zu werden. Es wächst also jetzt gerade eine ganze Generation heran, die ebenfalls mit Ende 20 / Mitte 30 mit ihren Eltern vor denselben Herausforderungen stehen wird wie ich jetzt gerade. Irgendwann wird also niemand mehr die obige Frage stellen, weil genau das normal sein wird. Weil ein Altersunterschied von 40 Jahren und mehr zwischen Eltern und Kindern keine Ausnahme mehr, sondern die Regel ist.

Nun kann man noch darüber streiten, ob Vierzigjährige in den Siebzigern körperlich und geistig schon wesentlich ältere Personen waren als heute. Getreu dem Motto: „Vierzig ist heute ja das neue Dreißig“.

Weiß ich nicht. Ich glaube, da machen sich die heute Vierzigjährigen was vor. Ich gehe auch stramm auf die 40 zu. 40 ist 40, rein physisch gesehen, damals wie heute, finde ich. Ich bin selbst mit 29 Mutter geworden und fand das schon ziemlich spät. Ich fühle mich auch jetzt noch fit genug dazu, aber aus meiner eigenen Erfahrung mit meinen späten Eltern heraus finde ich, dass man Kindern damit nicht unbedingt einen Gefallen tut.

Meine alten Eltern bescherten mir eine ziemlich schöne Kindheit, sie waren sehr liebevoll, und  vielleicht sogar aufgrund ihrer Lebenserfahrung und ihrer finanziellen Absicherung (beide mit über 20 Jahren Berufserfahrung ausgestattet, als ich kam) entspannter als jüngere Eltern, die ich kannte.

Aber eines ist leider genauso wahr: Aufgrund des Altersunterschiedes tangieren sich unsere Lebenswelten seit geraumer Zeit kaum noch. Zudem sind meine Eltern heute so gebrechlich, dass sie von ihrem Enkelkind kaum noch etwas mitkriegen. Geschweige denn von meinem Leben. Was oft einfach unsagbar schade ist.

Gute Nachrichten. Die Nachbarn meiner Eltern haben gerade in Rekordzeit ihr baugleiches Haus für ein hübsches Sümmchen verkauft. Da uns das ja auch demnächst bevorsteht, ist das natürlich ein ganz guter Stimmungs-Seismograph in Sachen „Was ist möglich?“ und „Wie schnell?“

Wöchentliches Einkaufs-Telefonat. Meine Mutter hat mir abseits des Bestell-Dialogs gerade davon berichtet.

Mama (in Papas Richtung): „Siehst Du, es geht also. Das KÖNNTEN wir auch. Genauso.“

Papa (bockig aus dem Hintergrund): „Ja, auf Wiedersehen, mach’s gut. Hau doch ab. Ich bleib hier.“

Mama (zu mir, ein Hauch Bitterkeit schwingt mit): „Er wiegelt ab. Papa will das nicht hören.“

Ja, im Abwiegeln ist Papa Meister. Manchmal vergisst Schrägstrich verdrängt er einfach, dass er vor einigen Wochen sein Okay und damit den Startschuss für das Umzugsprojekt gegeben hat. Nicht zuletzt deshalb halte ich das Ganze für ein Wettrennen gegen die Zeit, und wenn wir Pech haben, hat er tatsächlich alles vergessen, wenn es tatsächlich soweit ist.

Verglichen mit meiner Mutter ist mein Vater allerdings ein blutiger Anfänger in den Disziplinen Abwiegeln und Unterdenteppichkehren. Meine Mutter beherrscht Ablenkungsmanöver in Perfektion. Besonders gewieft scheint sie mir im Teilgebiet „Themenwechsel“ zu sein. Hier ein schönes Paradebeispiel.

Ich (im weiteren Verlauf desselben Telefonats): „Übrigens habe ich mir gestern eine der noch leerstehenden Wohnungen in unserem Gebäudekomplex angesehen. Die würde von den Begebenheiten her sehr gut passen.“

Mama (Achtung, erster Themenwechsel): „Hmmm. Wie ist denn Eure neue Wohnung? Fühlt Ihr Euch wohl?“

Ich (mir ist klar, dass sie nur ablenken will, aber ich werde den Faden schon nicht verlieren): „Sehr schön, wir haben uns richtig gut dort eingelebt.“

Mama (Themenwechsel Fortsetzung): „Habt Ihr eigentlich ein Gäste-WC?“

Ich (tief einatmend): „Nein. Das finden wir aber auch nicht so schlimm.“

Mama (ad hoc Oberwasser):

Aha! Das ist aber ganz wichtig. Man braucht unbedingt zwei Toiletten, gerade mit Kind. Zwei Toiletten sind das Nonplusultra.

Ich: „Wir hatten ja die Wahl zwischen einer Wohnung mit zwei Toiletten und schattigem Westbalkon und einer Wohnung mit nur einer Toilette, aber Südbalkon. Zwei Klos versus Sonne – Sonne war uns halt irgendwie wichtiger, Mama.“

Mama: „Nein! Getrennte Toiletten, das ist es, was zählt!“

Ich (Themenwechsel kann ich auch): „Okay, von mir aus. Aber kommen wir noch mal zurück zu EURER eventuell künftigen Wohnung. Ich habe bei der Besichtigung auch ein Video gemacht, das können wir uns beim nächsten Besuch ja mal in Ruhe angucken.“

Mama (as beiläufig as possible): „Jaja, gucken wir uns mal an.“

Ich (beinahe resignierend): „Sie ist sehr schön hell. Drei Zimmer. Eine kleine Terrasse mit ein bisschen Rasen, aber schön umwachsen. Und ganz in unserer Nähe, wir hätten sogar denselben Tiefgaragenzugang. Hört sich das nicht gut an?“

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Tochter auf Foto-Mission. Mögliche, künftige Terrasse. Viele Konjunktive.

Mama (begrenzt euphorisch): „Jaja, ganz gut.“

Es muss doch etwas geben, womit ich sie begeistern kann?!

Ich (Blitzidee): „Zwei Toiletten, Mama. Bad und Gäste-WC getrennt, stell Dir vor!“

Mama: „Hurra.“

Ich: „Nicht gut?“

Mama: „Doch, doch. Sag mal, hast Du auch von der Prinzessinnen-Taufe in Schweden am letzten Wochenende gehört? Das ist ja ein süßes Puppele*.“

Eins muss ich zugeben: In Sachen Themenwechsel ist sie mir meilenweit voraus. Ich gehe dann mal den Nachhilfekurs buchen.


* Für alle, denen der Begriff „Puppele“ nicht geläufig ist: Meine Mutter ist der weltgrößte Romy-Schneider-Fan, weshalb ich alle Sissi-Filme sowie sämtliche weiteren Werke („Mädchen in Uniform“, „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“, „Die Spaziergängerin von Sans-Souci“, „Swimming Pool“ und wie sie alle heißen, die meisten übrigens sehr empfehlenswert) auswendig mitsprechen kann. Jedenfalls war „Puppele“ von jeher der Kosename von Alain Delon für Romy Schneider, weshalb meine Mutter diesen Begriff für sich konserviert hat, um ihn in angemessener Dosis in ihren Alltags-Wortschatz einfließen zu lassen.

 

 

Kooperation. Ein ewiges Thema, an dem es ständig hapert. Ja, Mama und Papa haben vor ein paar Wochen entschieden, dass sie zu mir nach Hamburg kommen. Besser gesagt: Papa hat in diesem Moment endlich nachgegeben. Mama möchte schon ewig zurück in den Norden, schließlich ist sie hier oben aufgewachsen. Papa war es, der immer gebremst hat. Er hängt sehr an Düsseldorf. Ich verstehe ihn ja auch. Wer über 50 Jahre im selben Stadtteil und bald 30 Jahre im selben Haus lebt, der verkauft es nicht mal eben und zieht 500 Kilometer landaufwärts. Mit einer Parkinson-Diagnose schon gar nicht.

Trotzdem: Umzug alternativlos.

Papa sieht diese Alternativlosigkeit aber immer noch nicht wirklich ein, er tut höchstens so, als ob. In Wirklichkeit möchte er in seinem Haus bleiben, und zwar bis zum Ende. Das geht aber nicht. Je pflegebedürftiger er wird, desto weniger kann ich ihm und Mama aus der Ferne helfen, und vor Ort gibt es sonst niemanden, der das auffangen kann. Ja, ein Pflegeheim. Darin sind wir uns aber versehentlich alle einig: Das kommt nicht infrage.

Hinzu kommt: Ein Haus, dessen fünf Zimmer sich über fünf Etagen erstrecken, ist für die kommenden Jahre einfach keine geeignete Umgebung. Das ließe sich ja ändern. Meine Mutter, der Finanzminister der Familie mit der eisernen Hand auf allen Konten, stemmt sich aber mit Händen und Füßen dagegen, ihr Erspartes in „irgendwelche“ Umbaumaßnahmen zu stecken. Obwohl beide kaum noch die Treppen rauf und runter kommen. Obwohl sie zwar noch aus dem Haus heraus, aufgrund fehlender Geländer am Eingang aber kaum noch wieder hinein gelangen. Und, und, und…

Trotzdem: Am besten soll sich nichts ändern. Nichts im Sinne von „gar nichts“.

Irgendwann werden sie wie Maikäfer auf dem Rücken liegen und in diesem Haus überhaupt nicht mehr zurecht kommen, möchten das aber nicht begreifen. Dabei haben sie das schon am eigenen Leibe erfahren, nämlich, als meine Mutter zeitweise im Krankenhaus lag und der ohnehin am seidenen Faden hängende Haushalt meiner Eltern mehr oder weniger kollabierte.

Danach ist die ewig währende Diskussion zwischen uns dann endgültig eskaliert. Es musste sein. Ich rede mir seit Jahren den Mund fusselig, weil ich das Problem schon lange kommen sehe. Diesmal wurde nicht mehr geredet, es wurde geschrien, von allen Seiten. Wir sind auf dem Zahnfleisch gegangen, alle Mann. Danach ist der Widerstand meines Vaters gebrochen.

Es fühlt sich überhaupt nicht gut an, weil ich weiß, dass er nur meinetwegen nachgegeben hat, um mich zu beruhigen. Aber in diesem Fall muss mir das egal sein. Es geht nämlich nicht anders. Weil ich in Zukunft nicht ständig runterfahren kann, und weil sie alleine nicht mehr klarkommen. Ich überlasse sie aber auch nicht ihrem Schicksal dort unten. Wie oft haben wir uns im Kreis gedreht. Der Kreis ist nun durchbrochen, Gott sei Dank.

In diesem Fall heiligt der Zweck die Mittel.

Und das sage ich, obwohl ich auch Angst davor habe, wie sich alles entwickelt, wenn ich die beiden Bäume verpflanzt habe. Manchmal, hört man allerorts, gehe es nach einem solchen Erlebnis der Entwurzelung mit alten Menschen gesundheitlich erst recht bergab. Ich habe aber keine andere Wahl. WIR haben keine andere Wahl. Meine Mutter, Diagnose Herzinsuffizienz, hat schon wesentlich eher begriffen, dass ihr ein Ortswechsel in meine Nähe gut tun würde. Sie möchte zurück nach oben, aber am liebsten ohne Umzug. Sie hat Angst davor, das nicht zu schaffen. Beide haben Angst davor.

Beamen ist aber bisher nur bei Star Trek möglich.

Ich tue mein Bestes, ihnen diese Angst zu nehmen. T und ich machen ihnen immer klar, dass wir uns um alles kümmern. Der Plan lautet: Wir richten ihnen in Hamburg eine neue Wohnung her, barrierefrei, mit allen altgewohnten Möbeln, die sie behalten möchten und die ihren Zweck noch erfüllen. Was benötigt wird, kaufen wir dazu und machen es ihnen schön. Wir packen in Düsseldorf ihre Koffer und Kisten. Sie können mit uns gemeinsam in aller Ruhe entscheiden, was sie mitnehmen möchten. Dann organisieren wir einen Fahrdienst und bringen sie von A nach B. Sie werden nicht eine einzige Kiste selbst packen geschweige denn tragen oder irgendwas organisieren müssen. Sie müssen eigentlich überhaupt nichts machen. Full Service sozusagen. Wir bringen sie in ihr neues Zuhause, helfen beim Einrichten und stehen ihnen beim Einleben zur Seite. Anschließend, wenn sie aus Düsseldorf weg sind, verkaufen wir dort in Ruhe das Haus. Soweit die Theorie. In der Praxis schlage ich mich natürlich mit Widerständen der beiden herum, weil sie ständig zwischen „Ja, wir sehen es ja ein.“ und „Nein, wir wollen aber gar nicht.“ schwanken.

Ich habe festgestellt: Es hilft, einfach kleine Schritte vorwärts zu gehen, weil es der ganzen Sache den Schrecken nimmt. Neulich haben wir mein altes Kinderzimmer entrümpelt, an einem Wochenende, und daraus ein neues, komfortableres Schlafzimmer für sie gemacht. Davon waren sie begeistert. Es macht ihnen Mut, denn wenn wir kurzerhand Zimmer entrümpeln und neu einrichten können, kriegen T und ich ja möglicherweise auch einen Umzug gewuppt. Das lässt ihren Widerstand bröckeln, Hoffnung aufkeimen und Ängste verblassen. So muss es kontinuierlich weiter gehen, das bleibt meine Taktik. Schritt für Schritt, nicht zu viel an morgen denken.

Einpflanzen in Hamburg mit Enkel-Dünger.

Ich kann aber nicht umhin, ein paar Zukunftsvisionen zu entwerfen, weil sie mich motivieren. Für die Zeit nach dem Umzug habe ich mir viel vorgenommen. Und zwar werde ich meine Eltern bemuttern, was das Zeug hält.

  • Ich werde sie bekochen: Papa hat enorm abgenommen, mangelernährender Suppen-Diät sei Dank. Ihm winken Pfifferlinge, sein Leibgericht, das er vermutlich Jahre nicht mehr gegessen hat, Gulasch, Rouladen und alles, was meine gutbürgerlichen Kochkünste seinem Geschmack entsprechend hergeben. Inzwischen eine Menge, auch, wenn meine Mutter mir immer noch die Einsatzgebiete von Gemüsebrühe erklären möchte.
  • Ich werde meiner Mutter die Last des Einkaufen erleichtern und sie bei meinem wöchentlichen Großeinkauf berücksichtigen.
  • Ich werde hier in Hamburg geeignete Ärzte für sie suchen und sicher stellen, dass sie dort gut behandelt werden, was in Düsseldorf in der Vergangenheit nicht immer der Fall war.
  • Ich werde sie zu Arztterminen begleiten und unauffällig ein Auge auf ihre Medikation haben.
  • Ich werde alle notwendigen Besorgungen für sie erledigen oder meine Mutter dabei begleiten, damit sie regelmäßig raus kommt.
  • Ich werde am Wochenende mit Papa Fußball gucken. Und Boxen. Und Tennis. Und Großstadtrevier.
  • Ich werde meine Mutter an die Ostsee karren (ein Herzenswunsch von ihr, noch ein Mal das Meer sehen).
  • Sobald es notwendig wird (bald, fürchte ich), werden wir Pflegestufen beantragen und uns Schritt für Schritt Hilfe von außen dazu holen.
  • Ich werde dafür sorgen, dass sie ihr Enkelkind, das sie bislang höchstens ein Mal jährlich gesehen haben und von dem sie bisher nur aus der Ferne schwärmen, regelmäßig zu Gesicht bekommen, es endlich mal richtig kennen lernen und aufwachsen sehen.

Und dann werde ich hoffen, dass all das ausreicht, um in ihrem Alter noch gesunde, neue Wurzeln zu schlagen.

Seit wir letztes Jahr die Vorsorgevollmacht und die Bankvollmachten unter Dach und Fach gebracht haben, kann ich für meine Eltern auch online Bankgeschäfte erledigen. Früher musste meine Mutter zu Fuß zur Filiale laufen, wenn sie Überweisungen tätigen wollte. Heute ruft sie mich an, gibt mir die Daten durch, und ich erledige das via Banking.

Mein Vater steht diesem ganzen Online-Bankgeschäfte-Ding zwar skeptisch gegenüber:

Eigentlich gefällt mir das gar nicht so gut, dieses Bankinternetdings,

was ich sogar ganz gut nachvollziehen kann, aber es gibt ja keine Alternative. Keiner von beiden ist noch gut genug zu Fuß, um für jeden Hickser zur Bank zu gehen.

Ab und an werfe ich deshalb auch mal einen Blick auf die Kontobewegungen und prüfe, ob aktuelle Rechnungsbeträge fristgerecht vom Konto abgegangen sind. Und so kommt es, dass auch ich ab und zu mal sagen muss:

Eigentlich gefällt mir das gar nicht so gut, was ich da sehe.

Neulich gucke ich da nichtsahnend rein und wundere mich, dass meine Eltern offenbar regelmäßige Ratenzahlungen an einen bekannten, großen, grünweißen Staubsaugerhersteller leisten, und das nicht zu knapp. Immer so um die hundert Euro, und das jeden Monat, seit einem halben Jahr. Ich wundere mich. Was kann dort so teuer sein? Okay, die stellen so eine Küchenmaschine her, die angeblich alles kann, und auf die alle scharf sind, obwohl sie wahnwitzig teuer ist. Aber Küchenmaschinen passen überhaupt nicht zu meiner Mutter. Niemals würde sie sich dafür viele Monate lang verschulden.

Nächstes Telefonat. Ich frage mal unauffällig nach.

Ich: „Sag mal Mama, mir ist da so neulich mal aufgefallen, Ihr zahlt jeden Monat hundert Euro an die Firma XY, was ist denn das?“

Mama: „Hundert Euro? Oh, da muss ich mal überlegen. Ich bin mir nicht sicher, aber das müsste noch der Staubsauger sein.“

Ich: „Der Staubsauger. Was für ein Staubsauger?“

Mama: „Na, wir haben einen neuen gekauft.“

Ich: „War der alte kaputt?“

Mama: „Nicht direkt.“

Nicht direkt? Wie kann ein Staubsauger „nicht direkt kaputt“ sein?

Ich: „??“

Mama: „Naja. Es bot sich gerade an.“

Ich (kneife die Augen zusammen): „Der FirmaXY-Vertreter stand mal wieder vor der Tür, stimmts?“

Mama: „Ja, und der war SO nett.“

Papa (aus dem Hintergrund): „Der hat das richtig gut gemacht! Da wollten wir dann am Ende nicht sagen: Nein, wir kaufen nichts. Der muss doch auch was verdienen. Das ist bestimmt kein leichter Job.“

Meine Eltern, die barmherzigen Samariter.

Ich (kneife die Augen noch fester zusammen): „Okay, wie viel?“

Mama: „Das war ein SUPER Angebot, einfach SUPER.“

Ich (wage kaum, zu atmen): „So teuer?“

Mama: „Ach naja. Qualität hat eben ihren Preis. Die FirmaXY-Sauger halten ja auch sehr lange.“

Ich: „Du meinst, so wie Euer alter, der ja offenbar noch tadellos funktioniert?“

Mama: „…“

Ich (atme noch mal tief durch, Tränen fließen inzwischen aus meinen zusammen gekniffenen Augen heraus): „Ich bin bereit. Sag es.“

Mama: „Nur 100 Euro im Monat, das ist doch nicht viel. Das Kreditangebot war auch sehr gut, nur 7,5% pro Jahr. “

Ich (kann nur noch hauchen, nicht mehr sprechen): „Wie lange?“

Mama: „Ich glaube, 18 Monate.“

Also 1.800 Euro. Ziemlich viel Staubzucker für einen ziemlich teuren Staubsauger.

Schweigeminute. Ich sammele mich. Es geht mich nichts an. Sie sind erwachsen. Ich habe kein Recht, ihnen deshalb Vorhaltungen zu machen. Ich würde schließlich auch keine Standpauke hören wollen, wenn ich eingestehen würde, dass ich mir gerade Schuhe für 280 Euro gekauft habe. Ein einziges Paar. Wenn ich es eingestehen würde. Was ich natürlich nicht täte, versteht sich. Es geht sie schließlich auch nicht so viel an.

Ich: „Was kann er, dass er so teuer ist? Hat er vergoldete Griffe, kann er fliegen, das Wetter vorhersagen, oder was?“ frage ich und merke schon, dass mein Ton ziemlich streng wird.

Also. Noch mal: Es geht mich nichts an. Leider kann ich trotzdem nicht verbergen, dass es mich natürlich aufregt. Ich persönlich habe noch nie mehr als 200 bis 300 Euro für einen Staubsauger ausgegeben und halte das auch durchaus für ausreichend. Ich kaufe sie in großen Elektrofachmärkten oder online. Je nachdem, wo ich den besseren Preis bekomme. Das kennen meine Eltern nicht. Zum Beispiel wird bei meinen Eltern alles, was einen Stecker hat (bis auf den Staubsauger), seit Jahren beim Elektrogeschäft um die Ecke erworben. Das sind so Läden, die gefühlt aus dem letzten Jahrtausend stammen und so Namen tragen wie „Elektro Stüwers“ . Und wo der Fernseher mal locker drei Mal so teuer ist wie bei einem großen Megastore. Und der kann dann auch nicht fliegen, der Fernseher. Eins muss man Mama und Papa lassen: Ihre Einkaufspolitik zeichnet sich in Sachen Elektronik durch Stringenz aus. Sie kaufen elektronische Gebrauchsgegenstände grundsätzlich völlig überteuert, um den kleinen Einzelhandel zu stärken. Sie sind jedenfalls nicht dran schuld, wenn Buchhändler und Fernsehläden wegen Amazon kaputt gehen. Großherzige Samariter, sagte ich ja bereits.

Mama (klingt jetzt etwas hilflos): „Aber er hat eine vollautomatische Bodenerkennung!“

Ich (seufze): „Ja, aber Ihr habt doch im ganzen Haus Teppich. Außer in der Küche und im Bad, da habt Ihr Fliesen. Er muss also gerade mal zwei verschiedene Bodenarten erkennen.“

Papa (ruft aus dem Hintergrund): „Und für den Teppich haben wir noch den Teppichfrischer gekauft.“

Man hört ihm einen gewissen Stolz an. Er freut sich.

Mama (beeilt sich zu sagen): „DEN haben wir aber nicht finanziert, den haben wir bar bezahlt.“

Ich will’s gar nicht wissen. Nein, ich will nicht wissen, was der nun wieder gekostet hat. Ich halte mir einfach die Ohren zu.

Papa: „Der war viel günstiger. Nur 1.200. Geht doch. Für so ein super Gerät.“

Für meinen fünfminütigen Weinkrampf nutze ich nun die Mikrofon-Stummschaltungstaste an meinem Telefon. Ich möchte ihnen schließlich nicht die Freude verderben.

Dazu sollte man noch wissen, dass sich die Teppiche im Haus meiner Eltern in keinem exzellenten Zustand befinden, weil sie bereits damals beim Hausbau im Jahr 1980 mit verlegt wurden und nun mehr oder weniger Museumsreife erlangt haben. Der Gedanke, dass da ein hochtechnologisches Gerät ran muss, ist an sich ja gar nicht so verkehrt. Aber es müsste schon eher ein extraterristrisches her, um diese Teppiche wieder so richtig in Schuss zu bringen.

Ich (nachdem ich mich wieder beruhigt habe): „Ihr habt also einen neuen Staubsauger und einen neuen Teppicherfrischer gekauft.“

Papa ruft: „Jaha, bei uns kannst Du bald wieder vom Teppich essen!“

Ich: „Ach, lasst mal stecken.“ Nicht mal, wenn er mit Staubzucker garniert wäre.

Manchmal fühlt es sich an, als hätte ich plötzlich zwei Kinder mehr. Nur, dass sie 500 Kilometer entfernt wohnen, erwachsen und selbstbestimmt sind, in der Ferne aber immer weniger alleine zurecht kommen.

Allerdings:

Während Kinder vorwärts gehen, größer werden, dazulernen, läuft es bei meinen Eltern umgekehrt. Die Entwicklung geht rückwärts vonstatten. Jahrzehntelang waren sie erwachsen, hatten ihr Leben selbst im Griff, haben ihr eigenes Geld verdient, ein Haus gekauft, ein Kind großgezogen. Und nun verlieren sie mehr und mehr, Stückchen für Stückchen die Befähigung dazu, ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben führen zu können. Das ist bitter, und damit müssen sie erst mal klar kommen, und ich auch. Es ist seltsam, das mit anzusehen.

Gleichzeitig drehen sich die Verhältnisse: Eltern werden so manches Mal zu bockigen, hilfsbedürftigen Wesen, und die Kinder tragen auf einmal ein gutes Stück Verantwortung für das Leben von Mutter und Vater mit.

Plötzlich bin ich die Vernünftige von uns und höre mich selbst Sätze sagen wie:

Wie habt Ihr Euch das denn alles vorgestellt? Wie soll es in Zukunft weitergehen?

Oder:

Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, dass das alles so nicht bleiben kann.

Und dann sehen sie mich irritiert an, weil ich wie meine eigene Mutter klinge, die sonst auch immer den „gesunden Menschenverstand“ bemüht hat, sobald ihr in meinem Leben etwas nicht in den Kram passte, wie zum Beispiel:

Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, dass man nicht bis 6 Uhr nachts irgendwelche amerikanischen Basketballspiele guckt, wenn man am nächsten Morgen Mathe-Abitur schreibt!

Sagen wir mal so: Eine Nacht mehr Schlaf hätte an meiner Mathe-Fünf im Abi auch nichts mehr geändert, aber so ganz falsch lag Mama damit natürlich nicht.

Manchmal bewegen wir uns heute in einer Art verkehrten Welt.

Für mich ist das eine ewige Gratwanderung. Gerade jetzt, wo die Entscheidung für einen Umzug gefallen ist, geht es darum, ihre Wünsche zu respektieren und so gut es geht umzusetzen. Gleichzeitig werde ich aber auch Entscheidungen für sie treffen müssen, zu denen sie gar nicht mehr in der Lage sind. Ein schmaler Grat zwischen Interessenwahrung und Bevormundung, und das auf allen Ebenen des Alltags. Ich investiere diese Zeit und Energie sehr gern, denn schließlich gebe ich ihnen damit etwas zurück, was sie jahrelang ganz selbstverständlich für mich gemacht haben. Allerdings habe ich auch einen Heidenrespekt vor dieser neuen Aufgabe.

Mit der Vorsorgevollmacht, die wir zum Glück im vergangenen Jahr notariell anfertigen ließen, geht einher, dass ich ihre gesetzliche Betreuung übernehme, sobald sie nicht mehr geschäftsfähig sind. Das ist dann tatsächlich mit dem Sorgerecht für ein Kind vergleichbar. Ich hoffe, dieser Zeitpunkt liegt noch in weiter Ferne, würde aber leider keine Wetten darauf abschließen. Ich habe Respekt vor ihm.

Es war wieder Mittwoch. So wie neulich.

Mein Handy klingelt. „Mama und Papa“ rufen durch.

Ich (nenne meinen Namen und sage dann): „(…), ja hallo?“

Mama (wer braucht schon lästige Begrüßungsformeln): „Tochter, bist Du es?“

Ich: „Japp.“

Mama (irritiert): „Wie?“

Ich: „Ja, Mama!“

Mama (erleichtert): „Gott sei Dank, ich dachte schon, ich hätte mich verwählt.“

Ich (geduldig): „Nein.“

Mama (dem untrüglichen Mutterinstinkt folgend): „Du klingst so verschnupft. Bist Du krank?“

Ich: „Nein, Mama, alles gut.“

Mama (geht gleich zum Wesentlichen über): „Also, wir brauchen wieder Lebensmittel.“

Ich: „Alles klar. Bin startklar. Kann losgehen.“

Im Hintergrund öffne ich ein Browserfenster und gebe die URL des Online-Supermarktes ein.

Mama: „Es ist dringend. Wir haben seit Tagen kein Brot mehr. Ich habe schon zur Nachbarin gesagt, dass wir morgens verhungern. Da hat sie uns Brötchen mitgebracht. Die waren aber steinhart!“

Ich (so unironisch wie irgend möglich): „Das ist natürlich kein Zustand.“

Ich erkenne die Dringlichkeit, reserviere deshalb direkt schon mal eine Lieferzeit und sehe, dass übermorgen der frühestmögliche Liefertermin ist. Nicht optimal, aber besser als gar nichts. Ab sofort haben wir 30 Minuten Zeit zu bestellen, bevor die Reservierung verfällt und der Liefertermin gegebenenfalls nicht mehr zur Verfügung steht. Das ist normalerweise zu schaffen, versetzt mich aber ein wenig in Zeitdruck. Sonst kommt das Brot erst in drei Tagen. Das wäre inakzeptabel.

Die Uhr läuft.

Mama: „Zwei von den tollen Rouladen. DIE waren vielleicht lecker! Pass auf: Einfach in der Pfanne mit ein bisschen Biskin anbraten. Biskin kennst Du doch?“

Same procedure wie neulich mit der Gemüsebrühe. Nur dass mich diesmal ein Vortrag über das Braten mit Pflanzenfett erwartet.

Ich: „Ja, ist mir ein Begriff. Soll ich Biskin auch auf die Liste setzen?“

Mama: „Nein, das habe ich noch. Was ich aber sagen wollte: Einfach rundherum anbraten und dann ab in den Schmortopf, ach ja, dafür brauche ich noch Gemüsebrühe, die gibst Du dann einfach immer mal wieder drüber und lässt das Ganze dann so anderthalb Stunden garen. Weißt Du, Gemüsebrühe, aus dem Glas. Solltest Du unbedingt auch mal verwenden.“

Ich (versuche, die relevanten Informationen des Vortrags auf den Punkt zu bringen und das Ganze etwas zu beschleunigen): „Also, Du brauchst Gemüsebrühe. 1x.“

Mama: „Nein, habe ich auch noch.“

Ich: “ Aber Du sagstest doch vorhin, die bräuchtest Du noch!“

Mama (energisch): „Nein, sagte ich nicht.“

Gespräch aufzeichnen – ich vergesse es doch immer wieder.

Mama: „Eine Dose Erbsenmöhren. Die mag Papa so gerne.“

Ich: „Alles klar. Wie sieht’s mit Wasser aus?“

Mama (sehr bestimmend): „Wasser müssen wir ein andermal bestellen.“

Ich: „Wieso? Habt Ihr denn noch was? Mama, Du weißt, das ist wichtig, jetzt im Sommer, dass Ihr immer genug Wasser habt. Ihr trinkt eh zu wenig, finde ich.“

Mama (beharrlich): „Wasser machen wir beim nächsten Mal.“

Ich: „Aber warum denn? Schau doch einfach mal nach, das ist doch schnell mitbestellt.“

Noch 24 Minuten bis Lieferzeit-Verfall.

Mama (zögerlich): „Das geht nicht.“

Ich (Hartnäckigkeit liegt bei uns in der Familie): „Warum nicht?“

Mama (seufzt): „Papa will jetzt Fußball gucken“ [Es laufen gerade EM-Spiele, Anm. d. Red.]

Ich (den Zusammenhang nicht begreifend): „Ja, und?“

Mama (nun schon deutlich gedehnt): „Ich brauche Papa, um das Wasser zu zählen. Das steht unten im Schrank. Ich komme da nicht runter.“

Ich (alarmiert): „Hast Du wieder Schmerzen in den Beinen?“

Mama (abwiegelnd): „Kaum.“

Also ja. Aber das erörtern wir ein andermal.

Ich: „Dann wird Papa sein Fußballspiel wohl mal kurz sein lassen müssen.“

Mama: „Also schön.“ (und ins Wohnzimmer rufend) „S! Wir brauchen Wasser!“

Papa (brüllt zurück, ohne sich einen Zentimeter zu bewegen): „Nimm 12 Flaschen!“

Mama (schreit in den Hörer): „Aber Du hast doch gar nicht geguckt!“

Mir rutscht vor Schreck das Handy von der Schulter. Als ich es wieder am Ohr habe, höre ich nur noch Papa erwidern: „Ist ja gut, brüll nicht so, ich komm ja schon!“

Er muss dazu eine Treppe überwinden. Es dauert einen Moment.

Ich (auf die Uhr schauend): „Können wir dann schon mal weitermachen?“

Mama: „Nein, das bringt mich durcheinander. Wir machen jetzt erst das Wasser.“

Ich (seufzend): „Na schön.“

Im Hintergrund hört man noch immer Papas Schritte auf der Treppe. Einen. Nach. Dem. Anderen. Wir haben ja Zeit.

Genau genommen noch 18 Minuten. Noch bin ich entspannt.

Papa (in der Küche angekommen, öffnet den Schrank): „Nix mehr da. Hab ich doch gleich gesagt: Bestell 12 Flaschen. Aber nein, da muss ich extra hier hoch latschen.“

Mama: „Fahr mich nicht so an! Du weißt doch: Immer schön moderately.“

Ab und zu mischt meine Mutter ein paar Anglizismen unter ihr Vokabular. Sie möchte damit Eindruck schinden, stiftet aber meist nur Verwirrung.

Papa (versteht wie gewohnt kein Wort): „Was?“

Mama: „Was wäre denn gewesen, wenn wir noch 10 Flaschen gehabt hätten?“

Papa: „Na, dann hätten wir jetzt eben 22!“

Mama (verständnislos): „Was sollen wir mit 22 Flaschen Wasser?!?“

Papa: „Na und? Ist doch egal, die werden doch nicht schlecht.“

Mama: „Aber dann ist der Schrank voll, und nichts anderes passt rein.“

Papa: „Es muss doch auch gar nichts anderes rein, das ist doch der Wasser-Schrank!“

Mama: „Wir könnten ihn aber auch mal für was anderes nutzen.“

Noch 15 Minuten bis Lieferzeit-Verfall, und wir haben den Warenkorb noch nicht mal annähernd zu meiner Zufriedenheit gefüllt. Immer schön ruhig bleiben. Immer schön „moderately“.

Ich räuspere mich dezent, um mich in Erinnerung zu rufen.

Mama (sofort auf Empfang): „Ich wusste doch, dass Du krank bist!“

Ich: „Nein, ich wollte nur zeigen, dass wir mal weitermachen müssen.“

Mama (wie aus der Pistole geschossen): „Nimm Esberitox, das stärkt die Abwehrkräfte.“

Mit Abscheu erinnere ich mich an dieses bittere Zeug, mit dem sie mich in meiner Kindheit durch die kalten Jahreszeiten hindurch gequält hat, weil in der Apotheken-Umschau stand, das würde vor Erkältungen schützen.

Papa (hat sein Fußballspiel jetzt glatt vergessen, und wo man schon mal da ist, kann man ja auch Wünsche äußern): „Und diese kleinen Möhren. Die mag ich gerne!“

Mama: „Die Dose Erbsenmöhren, die habe ich schon bestellt.“

Papa (fühlt sich missverstanden): „Nein, nicht Erbsenmöhren, normale Möhren, diese kleinen, runden, auch aus der Dose!“

Mama: „Jahaaa, eine Dose Erbsenmöhren!“

Papa: „Ich will aber nur die Möhren. Die Erbsen brauche ich nicht.“

Ich möchte ihm ja gerne erklären, dass die Dose sowohl Erbsen als auch Möhren enthält, aber mir hört ja keiner zu.

Noch 10 Minuten bis Lieferzeit-Verfall. Ich sehe sie schon kommen, die drei weiteren Tage ohne Brot.

Mama (zu Papa): „Ich fange doch jetzt nicht an, für Dich die Möhren aus den Erbsen rauszusortieren!“

Es folgt ein sechsminütiger Dialog meiner Eltern, in dem die Fragen, weshalb eine Dose Erbsenmöhren sowohl Erbsen als auch Möhren enthält und warum man nicht einfach beides getrennt voneinander kauft, in ausreichendem Maße erörtert werden. Am Ende steht die Erkenntnis, dass es letztlich doch wohl praktischer sei, Dosen zu bestellen, die beides enthalten. Ich klicke erleichtert drei Dosen Erbsenmöhren in den Einkaufswagen.

Papa (mürrisch): „Ich gehe wieder Fußball gucken. Ihr seid mir zu kompliziert!“

Ich (konsterniert): „Ihr? Wieso ‚Ihr‘?“

Einige Artikel später, und der Countdown läuft: Noch 2 Minuten bis Lieferzeit-Verfall.

Ich: „Also, Mama, es waren leider nur noch große Lieferfenster übrig, ich habe jetzt übermorgen von 14.30 Uhr bis 22 Uhr reserviert.“

Mama (Protest!): „Das geht nicht, da liege ich im Bett.“

Ich (stirnrunzelnd): „Du wirst doch wohl mal bis 22 Uhr durchhalten, Mama.“

Mama: „Nicht abends. Mittags! Ich mache Mittagsschlaf und möchte nicht gestört werden.“

Ich: „Dann hast Du die Wahl zwischen gestörtem Schönheitsschlaf und frühester Lieferung erst in drei Tagen, dann von 16 bis 18 Uhr.“

Mama: „Ja, dann machen wir das.“

Ich: „Mama. Sagtest Du nicht zur Nachbarin, Ihr würdet morgens verhungern?!?“

Mama: „Nun übertreib nicht so, so würde ich mich nie ausdrücken.“

Ich: „?!!?!…“

Noch 1 Minute bis Lieferzeit-Verfall. Aber wen kümmert’s. Mittagsschlaf ist Mittagsschlaf. Wer braucht schon Brot. Und Wasser wird doch auch vollkommen überbewertet.

Mama: „Weißt Du, dass Menschen, die regelmäßig Mittagsschlaf machen, im Schnitt fünf Jahre länger leben? Schreibt sogar die Apotheken-Umschau.“

Die Rentner-Bibel wieder. Gegen die habe ich argumentativ natürlich schlechte Karten. Schon seit Jahren.

Ich: „Steht da nicht auch drin, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages ist? Und wie soll das gehen, ohne Brot, und mit steinharten Brötchen?“

Mama (zögernd, überlegt): „Hm. Na ja. Okay, dann nimm den früheren Termin.“

Ha! Sieg auf ganzer Linie!

Ich bestelle, und die Lieferzeit übermorgen ist auch noch frei. Das läuft ja wie am Schnürchen! Ich navigiere mich durch den Vorgang und will ihn gerade mit einem Klick auf „Bestellen“ abschließen.

Serverfehler.

Warenkorb gelöscht.

Lieferzeit weg.

Immer schön moderately. Immer. Schön. MODERATELY.

Als ich mit 17 noch bei bei meinen Eltern wohnte, schleppte ich ein 56-K-Modem an, womit wir der erste Haushalt mit privatem Internetzugang in der gesamten Straße waren. Meine Eltern sahen mich erst fragend an, und dann ärgerten sie sich über eine ständig belegte Telefonleitung. Als ich zwei Jahre später auszog, freuten sie sich, wieder ungestört telefonieren zu können, und das war’s. Das Internet war Mama und Papa nicht geheuer und fand deshalb nie wieder Einzug in mein Elternhaus. Dachte ich.

Bis ich eines Tages bei einem meiner letzten Besuche im Wohnzimmer meiner Eltern einen WLAN-Router entdeckte. Mein Blick fiel auf die Kabel-TV-Dose in der Wand, die auch so merkwürdig neu aussah und plötzlich drei Steckplätze hatte, statt zwei, so wie früher.

„Mama, was ist das?“ fragte ich und zeigte auf das kleine, schwarze Gerät. Natürlich wusste ich, was das war. Aber wie zur Hölle kam der WLAN-Router hierher, in die letzte internetfreie Bastion Düsseldorfs?

„Keine Ahnung!“ sagte meine Mutter und zuckte mit den Schultern. Dann fiel es ihr wieder ein. „Ach ja, da war neulich so ein Mann von der Telekom. Der hat ein bisschen in der Wand herumgebohrt und dieses Ding hier stehen lassen.“

„Der war nicht von der Telekom.“ korrigierte mein Vater sie mürrisch. „Der war von U-Netti-Media. Oder so ähnlich.“ (Anm. d. Red.: Der Name des Telekommunikationsanbieters wurde geringfügig verfremdet)

Ich wurde hellhörig. „Wie, Moment mal. U-netti-was?“

Meine Mutter seufzte. „Ja, der stand neulich vor der Tür, mit so einem dicken Aktenordner und meinte, unser alter Telefon-Vertrag mit der Telekom würde auslaufen und wir müssten einen neuen abschließen, und zwar bei ihm.“

Ich (alarmiert): „Wie bitte? Und dann?“

Meine Mutter: „Dann kam er hinein, und wir haben einen Vertrag abgeschlossen.“

Ich: „Oh-oh.“

Meine Mutter: „Und ein paar Tage später kam so ein Elektriker, und der hat dann irgendwas im Keller gemacht und hier so eine neue Buchse installiert und dieses Ding da hingestellt.“

Ich (akut kopfschmerzgefährdet): „Das ist ein Router, Mama, fürs Internet.“

Meine Mutter (zutiefst empört): „Was sollen wir denn damit?“

Ich: „Das ist eine gute Frage!“

Dann bat ich sie, mir die Unterlagen zu bringen, damit ich einen Blick darauf werfen konnte. Und nun möchte ich die Gelegenheit nutzen,

… um der Drückerkolonne von U-Netti-Media ganz herzlich zu gratulieren.

Und zwar zu diesem überwältigenden Maß an Skrupellosigkeit, über das man zweifellos verfügen muss, um zwei wenig technikaffinen Rentnern einen vollkommen überdimensionierten Internetvertrag mit allem Pipapo aufzuschwatzen. Glückwunsch, das hat Euer Vertreter wirklich ganz prima hinbekommen. Und deshalb, ebenfalls aus aktuellem Anlass, mein offener Brief an eben jene hemmungs- und gewissenlose Persönlichkeit, die sich mehr oder weniger unbefugten Zutritt zum Haus meiner Eltern verschafft hat.

Lieber Vertreter,

als Sie an der Haustür meiner Eltern klingelten und Ihnen eine ältere Dame entgegen blinzelte, haben Sie da nicht einen klitzekleinen Augenblick sowas gedacht wie „Oh. Nein. Hier bin ich falsch.“ ?

Ist Ihnen, als Sie sich an ihr vorbei ins Haus drängten, niemals der Gedanke gekommen, dass Sie im Begriff sind, Hausfriedensbruch zu begehen?

Haben Sie möglicherweise überhört, dass meine Mutter Sie deutlich gebeten hat, das Haus wieder zu verlassen?

War es Ihnen nicht irgendwie unangenehm, trotzdem Platz zu nehmen, um mit meinem Vater ein pseudo-interessiertes Gespräch über den neuesten Fortuna-Transfer zu beginnen?

Wie haben Sie es geschafft, das Glas Wasser, das er Ihnen aus Höflichkeit anbot, anzunehmen, ohne vor Scham im Erdboden zu versinken?

Wie konnten Sie meiner Mutter, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Gesicht lügen, ihr über 40 Jahre lang bestehender, anfangs noch bei der Deutschen Post beheimateter, späterer Telekom-Vertrag würde jetzt einfach so auslaufen, und wenn sie nichts unternähme, hätte sie bald kein Telefon mehr?

Wie war es Ihnen möglich, auszublenden, dass das einzige Kommunikationsgerät im Hause meiner Eltern ein Tastentelefon aus dem Jahr 1986 ist, und auf welchen verschlungenen Wegen ihrer Hirnwindungen ist daraus das fehlgeleitete Fazit entstanden,  meine Eltern bräuchten dringend einen Internetzugang?

Haben Sie möglicherweise den Hinweis meines Vaters, keinen Computer, kein Smartphone, kein Tablet und auch sonst kein internetfähiges Endgerät zu besitzen, auf irgendeine merkwürdige Weise fehlinterpretiert?

Fanden Sie den Einwand, dann sei es ja an der Zeit, sich die entsprechenden Devices anzuschaffen, nicht selbst vollkommen dreist und vermessen?

Und wäre es dann nicht wenigstens genug gewesen, ihnen den kleinsten Tarif anzudrehen, das Basispaket, statt der XXXL-Variante mit Highspeed und mega Highend-Router und allem zugehörigen Schwachsinn, mit dem sie nie im Leben irgendwas werden anfangen können?

Nein?

Ach so, dann sind sie vielleicht gar kein seriöser Vertreter von U-Netti-Media, sondern einfach ein provisionsdruckgesteuertes Mega-A******** einer Drückerkolonne, das gerne alte Leute über den Tisch zieht?

Ach so, na, das erklärt einiges.

Betreuungsverfügung, Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht, Bankvollmacht. Hatte ich alles schon mal gehört, mich aber nie mit auseinander gesetzt. Wozu auch. Das brauchen doch nur alte Leute.

Dann wurden meine Eltern plötzlich von einem Tag auf den anderen alt.

Und das erwischte mich eiskalt. Klar, sie gingen auf die Achtzig zu. Ihr kalendarisches Alter war mir durchaus bekannt. Ich wusste natürlich auch von der Parkinson-Diagnose meines Vaters, der aber durch Medikamente gut eingestellt war. Mir war auch klar, dass meine Mutter nicht mehr wie ein junges Reh durchs Haus sprang. Aber bis zu diesem Zeitpunkt waren sie gemeinsam noch dazu in der Lage, sich größtenteils selbst zu versorgen. Meine Mutter ging fast täglich einkaufen und kochte, mein Vater schwang den 1.800 Euro teuren Staubsauger (eine andere, schöne Anekdote, die ich bei Gelegenheit noch mal loswerden muss) und wischte Staub, das Haus war schon lange zu groß – aber so halbwegs ließ sich das alles noch machen.

Dann landete meine Mutter von einem Tag auf den anderen mit einer Herzinsuffizienz im Krankenhaus.

Und das Leben drehte sich für die beiden mit einem Mal im Kreis. Wovon ich nichts mitbekam. Denn aus lauter Panik, ich könnte kommen, schimpfen und alles auf den Kopf stellen, erzählten sie mir erst zwei Wochen später davon, als meine Mutter das Krankenhaus schon längst wieder auf eigene Verantwortung verlassen hatte. Mir wurde am Telefon eifrig vorgegaukelt, wie toll in Ordnung alles sei, während sie im Hintergrund verzweifelt versuchten, den Alltag zu bewältigen. Was natürlich nicht funktionieren konnte. Die Nachbarn waren zwar so nett, einige Einkäufe zu übernehmen, den Rasen mitzumähen, Getränke aufzufüllen, Pfand zurückzubringen, den Müll rauszustellen…  dann besaßen die  aber doch glatt die Frechheit, mich über Facebook über den allgemeinen Zustand in meinem Elternhaus in Kenntnis zu setzen. Ich bin ihnen noch heute äußerst dankbar dafür.

Ich kam, schimpfte und stellte alles auf den Kopf.

Zuerst organisierte ich einen Mittagsdienst, der meine Eltern in der kommenden Zeit jeden Tag mit warmen Mahlzeiten versorgte. Sie hatten sich wochenlang von Dosensuppen ernährt, was man ihnen ansah. Ich erkannte sie kaum wieder. Dann richtete ich ihnen ein Konto bei einem Online-Supermarkt ein und veranlasste, dass sie künftig regelmäßig Lieferungen bekamen. Ich ließ den Hausarzt meiner Mutter, der sich zunächst wenig kooperativ zeigte, zum Hausbesuch antanzen, um die Wahrheit über ihren Zustand zu erfahren. Der mir graue Haare bescherte. Ich begann, die Tabletten meiner Eltern durchzuzählen und auszurechnen, wann sie wieder neue bräuchten, um meine kommenden Besuche dementsprechend zu terminieren. Ich setzte mich mit der nächstgelegenen Apotheke auseinander, füllte Lieferverträge aus und stritt mich mit dem in Düsseldorf-City beheimateten Neurologen meines Vaters darüber, weshalb fast 80-jährige noch zum beschissenen Quartalsbeginn mit dem Taxi in die Innenstadt fahren müssen, um die verschissene Krankenkassenkarte durchs verkackte Lesegerät ziehen zu lassen. Ja, das war meine Ausdrucksweise in originalgetreuer Wiedergabe. Die nette Sprechstundenhilfe des Neurologen klärte mich sanft darüber auf, dass man die Karte auch mit der Post schicken könne, meine Mutter sich aber bisher standhaft geweigert hatte, das zu tun.

Das sind wichtige Dokumente! Die stecke ich doch nicht in einen Briefkasten!,

soll meine Mutter mit dem Brustton der Empörung wortwörtlich in den Hörer geschnaubt haben, was ich der Sprechstundenhilfe leider sofort glauben musste, da meine Mutter die Wendung „wichtige Dokumente“ gerne benutzte. Kleinlaut entschuldigte ich mich bei der Sprechstundenhilfe für mein unflätiges Vokabular und atmete zum zigsten Male in diesen Wochen gaaaanz tief durch. Es stellte sich heraus, dass meine Mutter in der Tat lieber den beschwerlichen Weg in die Innenstadt antrat als den zum Postkasten. Das Problem war, dass sie zu beidem gar nicht mehr in der Lage war. Ich begann, mein Privatleben nach dem Medikamentenbedarf meiner Eltern auszurichten, indem ich meine Besuchsintervall dementsprechend plante. Mein Nervenkostüm zeigte langsam erste Risse.

Dabei stand mir der vorläufige k.o.-Schlag erst noch bevor.

Denn dann kam auch noch Frau Meier-Riepenstein (Name redaktionell verfremdet, Anm. d. Red.) von der Betreuungsstelle der Landeshauptstadt Düsseldorf und verpasste mir genau zur richtigen Zeit vier schallende Ohrfeigen, bäm, bäm, bäm, bäm:

Ach, Ihre Eltern haben keine Betreuungsverfügung? Tja. Wenn Sie Pech haben, stuft irgendwann irgendein Arzt Ihre Mutter oder Ihren Vater als nicht mehr geschäftsfähig an. Dann leitet er in die Wege, dass irgendein Richter Ihrem Elternteil einen gesetzlichen, vollkommen fremden Vormund vor die Nase setzt, wenn Sie Pech haben. Der kann dann Ihren Vater beispielsweise gegen seinen Willen in ein Pflegeheim bringen lassen. Da können Sie dann gar nichts machen, schon gar nicht aus der Ferne.

 

Ach, Ihre Eltern haben keine Patientenverfügung? Na, dann seien Sie mal froh, dass das mit Ihrer Mutter diesmal so glimpflich gelaufen ist. Sonst hätten Sie und Ihr Vater beispielsweise entscheiden müssen, ob die Geräte abgestellt werden sollen oder nicht.

 

Ach, Ihre Eltern haben keine Vorsorgevollmacht? Hm. Mal angenommen, einer Ihrer Elternteile kommt in Pflege, der andere muss deshalb das Haus verkaufen. Das Haus gehört aber beiden. Ist Ihnen klar, dass zum Notartermin beide anwesend sein und beide unterschreiben müssen? Wie bekommen Sie denn den pflegebedürftigen Elternteil dorthin? Mit einer notariell beglaubigten Vorsorgevollmacht können Sie stattdessen Verträge kündigen, Immobilien verkaufen und so weiter. Ohne Vorsorgevollmacht haben Sie unter Umständen noch Ewigkeiten lang die Sportvereinsmitgliedschaft Ihres Vaters am Bein, obwohl der da gar nicht mehr hingehen kann.

 

Ach, Ihre Eltern haben keine Bankvollmachten für ihre Konten erteilt? Wem gehört denn das Hauptgirokonto? Ach, Ihrem Vater alleine. Soso. Mal angenommen, ihm passiert was. Wissen Sie eigentlich, wie viel Ihre Mutter dann darf? Richtig: nüscht. Ihre Mutter ist zwar seine Ehefrau, aber solange das Konto nicht beiden gehört und solange er ihr keine Bankvollmacht erteilt hat, darf sie rein gar nichts, Ehefrau hin oder her. Wenn Ihr Vater stirbt, wird das Konto sofort eingefroren, Ihre Mutter hat von einem Tag auf den anderen keinen Pfennig Geld mehr. Bis der Totenschein ausgestellt ist, mit dem sie das Konto wieder frei kriegt, können Wochen oder Monate vergehen. Was macht denn dann Ihre Mutter so lange? Übrigens reicht hier die Vorsorgevollmacht nicht aus. Die meisten Banken winken milde lächelnd ab, wenn Sie damit ankommen. Die wollen alle, dass Sie die institutseigenen Bankvollmachtsausdrucke ausfüllen. Da hilft Ihnen nicht mal eine notariell bestätigte Vorsorgevollmacht weiter.

Ich bekam vom Zuhören heiße Wangen, nickte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, zog mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des ortsansässigen Notars.

Lest im nächsten Teil: „Papa, DU DARFST JETZT NICHT EINSCHLAFEN!“ – Hausbesuch des Notars bei Mama und Papa, ein Abenteuer für sich.

 

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