Meine Mutter hatte schon immer ein besonderes Feingefühl für Timing. Und so kam sie anno 2017 mitten beim Essen anlässlich der Beisetzung meines Vaters auf die grandiose Idee, folgendes vom Stapel zu lassen:
Ich muss dir jetzt mal was erzählen. Seit Jahren schon trage ich ein Familiengeheimnis mit mir herum und traue mich nicht, dir davon zu erzählen.
Meine Mutter, setzt zu unpassendsten Gelegenheiten immer noch mühelos eins drauf.
Ich erinnere mich noch gut an die vielsagenden Blicke und die hochgezogenen Augenbrauen um uns herum. Am Tisch saßen nämlich nicht nur meine Mutter und ich – auch meine beste Freundin, mein Partner, die Familie meines verstorbenen Vaters und die besten Freunde meiner Eltern hörten nun mit gespitzten Ohren zu und harrten der Dinge.
Es klang, als wolle meine Mutter mir eröffnen, ich sei gar nicht ihr Kind.
Falsch geraten. Das war’s schonmal nicht. Ich konnte aufatmen. Stattdessen holte meine Mutter nun tief Luft – und man sah ihr an, dass sie sich wirklich ein Herz fassen musste und ein wenig Respekt vor meiner zu erwartenden Reaktion hatte. Bedeutungsschwer und höchst pathetisch formulierte sie die folgenden Worte:
Deine Tante B., also meine Schwester, ist gar nicht deine leibliche Tante. Gott sei Dank, nun ist es endlich raus.
Meine Mutter, sehr erleichtert.
Dann sah sie mich erwartungsvoll und ein wenig ängstlich an und rechnete damit, ich würde in Entsetzen ausbrechen.
Nun muss man wissen: Ich kenne Tante B. kaum.
Tante B. lebt mit ihrem Mann und meinen beiden Cousinen weit weg von uns im Süden Deutschlands. Ich habe sie während meiner Kindheit kaum gesehen. Sie war zwar meine Patentante, aber außer ein paar Taufgeschenken und hier und da mal einen Gruß zum Geburtstag verbinde ich wenig mit ihr.
Im Gegenteil.
Na meinetwegen.
erwiderte ich also, zur allgemeinen Erheiterung aller Anwesender.
Die Tante sei über diese Dinge auch schon seit Jahren im Bilde, sagte meine Mutter, nur bei mir hätte sie sich noch überwinden müssen, mich in Kenntnis zu setzen.
Damit hätte die Geschichte eigentlich abgehakt sein können. End of Story.
Eigentlich hätte ich an dieser Stelle sagen können: Danke für die Info, gut zu wissen, was gibt’s zum Nachtisch? Aber dann erzählte meine Mutter, woher sie das alles eigentlich wusste, und es tat sich ein Geflecht aus Geheimnissen und Merkwürdigkeiten auf, das mich hellhörig werden ließ.
Ich habe es meiner Berufskrankheit namens Neugierde (ich bin Redakteurin und recherchiere gern) zu verdanken, dass ich das Ganze dann doch nicht ganz auf sich beruhen lassen konnte – und ich bin heute noch immer mittendrin, alles zu entwirren.
Nur so viel zum Stand meiner Recherche: Im schlesischen Heimatort meiner Großeltern sind zufälligerweise im Geburtsjahr meiner Tante auffällig viele Babys verstorben – wesentlich mehr als in den Jahren zuvor und danach. Und ich möchte herausfinden, ob das tatsächlich nur an den schlechten Zeiten lag.
Oder ob hier systematisch Sterbeurkunden gefälscht wurden, um Kinder zu retten, vor den Deportationen 1942 beispielsweise.
Bisher habe ich nur Indizien. Zum Beispiel gibt es da eine Ortshebamme, deren Name meiner Mutter bekannt war und die in vielen dieser Urkunden auftaucht, und ein Kreiskrankenhaus, dessen Vorsteherin wohl auch einen gewissen Einfluss auf den Verlauf der Dinge gehabt haben dürfte.
Die ganze Geschichte hat für mich eine sehr persönliche Komponente. Unter anderem birgt sie das Potenzial, meinen Blick auf meine sehr geliebte Oma im Positiven wie natürlich auch im Negativen zu verändern – je nachdem, welche Rolle sie dabei gespielt hat.
Jedenfalls werde ich versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Und plane für den Anfang eine vor-Ort-Recherche beim Landesarchiv Berlin. Nach dem Krieg wurden die erhalten gebliebenen Personenstandsregister der ehemaligen deutschen Ostgebiete hierhin gebracht, und das Register aus dem Heimatort meiner Großeltern ist dabei. Wenn ich noch irgendwo Dokumente finde, welche die Herkunft meiner Mutter belegen, dann hier.
Denn meine erste Mission lautet: Die Geburtsurkunde meiner Mutter finden.
Als meine Oma damals im Krieg vor den Russen flüchten musste, stand ihr vermutlich nicht der Sinn danach, sich erst noch Abschriften der Geburtsurkunden ihrer beiden Mädchen zu besorgen, bevor sie sich mit ihrem spärlichen Hab und Gut auf den Weg in den Westen machte.
Deshalb konnte meine Mutter sich nie richtig legitimieren. In Kiel angekommen, wurde einfach per eidesstattlicher Versicherung besiegelt, wohin die beiden Mädchen gehörten – und fertig. Was sollte man auch sonst tun.
Als ich damals nach dem Tod meines Vaters Witwenrente für meine Mutter beantragte, wurde ihr aufgrund des fehlenden Dokuments immer noch der Status eines geduldeten Flüchtlings bescheinigt – nachdem sie bereits über 50 Jahre im Westen gelebt hatte. Das empfand ich als ungerecht. Es war mir damals schon ein Dorn im Auge, muss ich sagen.
Meine Mutter und ich sind uns einig: Es ist immer gut, sich legitimieren zu können und schwarz auf weiß zu haben, woher man kommt.
Da man die Geburtsurkunden noch lebender Personen u.a. aus datenschutzrechtlichen Gründen aber nicht online einsehen kann, werde ich mich also demnächst mit einer Vollmacht unter dem Arm auf den Weg nach Berlin machen. Bald geht es los – ich werde berichten.