Manchmal fühlt es sich an, als hätte ich plötzlich zwei Kinder mehr. Nur, dass sie 500 Kilometer entfernt wohnen, erwachsen und selbstbestimmt sind, in der Ferne aber immer weniger alleine zurecht kommen.
Allerdings:
Während Kinder vorwärts gehen, größer werden, dazulernen, läuft es bei meinen Eltern umgekehrt. Die Entwicklung geht rückwärts vonstatten. Jahrzehntelang waren sie erwachsen, hatten ihr Leben selbst im Griff, haben ihr eigenes Geld verdient, ein Haus gekauft, ein Kind großgezogen. Und nun verlieren sie mehr und mehr, Stückchen für Stückchen die Befähigung dazu, ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben führen zu können. Das ist bitter, und damit müssen sie erst mal klar kommen, und ich auch. Es ist seltsam, das mit anzusehen.
Gleichzeitig drehen sich die Verhältnisse: Eltern werden so manches Mal zu bockigen, hilfsbedürftigen Wesen, und die Kinder tragen auf einmal ein gutes Stück Verantwortung für das Leben von Mutter und Vater mit.
Plötzlich bin ich die Vernünftige von uns und höre mich selbst Sätze sagen wie:
Wie habt Ihr Euch das denn alles vorgestellt? Wie soll es in Zukunft weitergehen?
Oder:
Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, dass das alles so nicht bleiben kann.
Und dann sehen sie mich irritiert an, weil ich wie meine eigene Mutter klinge, die sonst auch immer den „gesunden Menschenverstand“ bemüht hat, sobald ihr in meinem Leben etwas nicht in den Kram passte, wie zum Beispiel:
Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand, dass man nicht bis 6 Uhr nachts irgendwelche amerikanischen Basketballspiele guckt, wenn man am nächsten Morgen Mathe-Abitur schreibt!
Sagen wir mal so: Eine Nacht mehr Schlaf hätte an meiner Mathe-Fünf im Abi auch nichts mehr geändert, aber so ganz falsch lag Mama damit natürlich nicht.
Manchmal bewegen wir uns heute in einer Art verkehrten Welt.
Für mich ist das eine ewige Gratwanderung. Gerade jetzt, wo die Entscheidung für einen Umzug gefallen ist, geht es darum, ihre Wünsche zu respektieren und so gut es geht umzusetzen. Gleichzeitig werde ich aber auch Entscheidungen für sie treffen müssen, zu denen sie gar nicht mehr in der Lage sind. Ein schmaler Grat zwischen Interessenwahrung und Bevormundung, und das auf allen Ebenen des Alltags. Ich investiere diese Zeit und Energie sehr gern, denn schließlich gebe ich ihnen damit etwas zurück, was sie jahrelang ganz selbstverständlich für mich gemacht haben. Allerdings habe ich auch einen Heidenrespekt vor dieser neuen Aufgabe.
Mit der Vorsorgevollmacht, die wir zum Glück im vergangenen Jahr notariell anfertigen ließen, geht einher, dass ich ihre gesetzliche Betreuung übernehme, sobald sie nicht mehr geschäftsfähig sind. Das ist dann tatsächlich mit dem Sorgerecht für ein Kind vergleichbar. Ich hoffe, dieser Zeitpunkt liegt noch in weiter Ferne, würde aber leider keine Wetten darauf abschließen. Ich habe Respekt vor ihm.